Der steinerne Engel
sich nichts sehnlicher wünschte als eine Welt der Normalität und Gerechtigkeit, war das natürlich kein Trost. Er war dazu verdammt, mit Enttäuschungen zu leben.
»Jimmy hat nie ausdrücklich bestätigt, dass er die Steine geworfen hat«, sagte Charles jetzt.
Riker lächelte nachsichtig. Charles kämpfte immer noch für die Zivilisation - aber auch die war inzwischen eine Illusion. Willkommen in der neuen Welt, dem Planeten der Tiere.
»Tolle Technik«, sagte er jetzt. »Bei mir dauert es bis zu drei Tagen, bis ich einen Verdächtigen weich geklopft habe, und ihr schafft es in weniger als zehn Minuten. Mich wundert eigentlich, dass Mallory so kurzen Prozess gemacht und die Daumenschrauben nicht ganz langsam und genüsslich angezogen hat. Jimmy ist also der Zeuge der Anklage im Prozess um den Mord an ihrer Mutter, stimmt's?«
Charles nickte. »Endlich hast du's begriffen.«
Noch war die Arbeit nicht getan. Riker wusste, dass es eine besonders lange Nacht werden würde. Er hob grüßend die Hand, ließ Charles stehen und folgte den Frauen und ihrem Gefangenen.
Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie Charles mit der Schulter den Engel zurecht schob, bis er auf dem Sockel wieder nach Süden blickte. Henry kam mit einer Rollpalette näher, einer Kopie des kleinen Mädchens, das Riker als Kathy Mallory gekannt hatte.
Die kleine Gruppe vor ihm verließ jetzt die Eichenallee und bewegte sich über offenes Gelände auf das Haus zu. Riker watete durch knöcheltiefes Wasser, bis seine Schuhe durchweicht waren und er gelernt hatte, Augustas Zickzackkurs folgend die Pfützen zu umgehen.
Jimmy stürzte, und die beiden Frauen halfen ihm auf. Augusta tätschelte ihm den Kopf wie einem Hund.
Riker wartete, bis sie im Haus waren, dann öffnete er so lautlos wie möglich die Tür und spähte vorsichtig in die Küche.
Halt, Mallory, so geht das nicht! Ihm wurde ganz flau.
Die beiden saßen am Tisch, auf dem ein eingeschaltetes Bandgerät stand. Mallory hatte dem Verdächtigen fast liebevoll eine Hand auf die Schulter gelegt und zeigte ihm, wie sympathisch er ihr war.
Riker hätte sich wohler gefühlt, wenn sie geweint hätte. Das gezwungene Lächeln tat ihm fast körperlich weh.
Er räusperte sich. Als sie aufsah, bedeutete er ihr, nach draußen zu kommen. Sofort.
Sie baute sich mit überkreuzten Armen vor ihm auf. Sehen konnte er in dem dunklen Gang nicht viel, aber er spürte, wie wütend sie war.
»Mach, dass du rauskommst, Riker. Du störst.«
»Lass mich das machen«, bat er. »Ich versteh mich auf so was besser als du.«
»Raus.«
»Du weißt, dass diese Dinge meine Spezialität sind, Mallory.«
Sie drehte sich um und ging wieder in Richtung Küche, aber er holte sie ein und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Jetzt hör mir mal genau zu. Du musst den Kerl umdrehen, und eine zweite Chance kriegst du nicht. Wenn du jetzt Mist baust, laufen die anderen auseinander.«
Er spürte, wie sie sich versteifte, aber sie blieb wenigstens stehen. So sanft, wie er nie zu ihr sprechen konnte, wenn sie ihn ansah, sagte er: »In jedem Mordfall erfährt man mehr über das Opfer, als einem lieb ist. Eine fremde Frau liegt tot auf dem Seziertisch, und du nimmst fünfzigmal am Tag ihren Namen in den Mund, redest mit Leuten, die sie kannten, erfährst intime Dinge, die nicht mal ihre eigene Familie wusste.«
Er legte die Lippen an ihr Ohr und flüsterte: »Und dann kommt der Moment, in dem du merkst, dass du eine Tote beim Vornamen nennst, als ob sie eine gute alte Bekannte von dir wäre. Und damit wird alles ein Stück schwerer. Persönlicher. Aber diesmal, Mallory, nennst du die Tote Mommy. So wie ein kleines Mädchen ihre Mutter nennt, so wie du sie genannt hast.«
Er zog sie enger an sich. »Du weißt genau, warum du es nicht machen kannst.« Er wollte vermeiden, dass seine Stimme brüchig wurde, deshalb setzte er die nächsten Worte sehr sorgfältig und legte eine Pause ein, wenn ihm eins im Hals stecken zu bleiben drohte. »Ich dreh ihn für dich um ... ich halte ihm die Hand und reibe ihm den Rücken ... und sag ihm, dass gar nichts dabei war, wenn er deiner Mutter mit Steinen alle Knochen im Leib gebrochen und die Zähne eingeschlagen hat, bis sie verblutet ist.« Mallory nickte.
Der Deal war perfekt.
Er nahm die Hände von ihren Schultern, aber sie drehte sich nicht um. Mit keinem Laut verriet sie ihre Gefühle, aber er sah sie bewusst nicht an, als er um sie herumging und sich durch den langen dunklen
Weitere Kostenlose Bücher