Der steinerne Engel
wickelte behutsam den Gazestreifen ab. Die Fledermaus kreischte, und Augusta träufelte ihr mit einer Pipette eine Flüssigkeit in den Schnabel, bis das Tier Ruhe gab, sodass sie jetzt ungestört die Wunde versorgen konnte.
Augusta musste gespürt haben, dass Charles knapp einen Meter hinter ihr stand, aber sie sah nicht auf. Die Spannung zwischen ihnen war förmlich mit Händen zu greifen. Er suchte nach einem geeigneten Einstieg ins Gespräch.
»Nicht zu wissen, wo die Tote abgeblieben war, muss den Mob verrückt gemacht haben.«
»Sie wiederholen sich, Charles.« Augustas Blick war unbeirrt auf die zarte Membrane des Fledermausflügels gerichtet.
Er setzte sich neben sie auf den staubigen Boden. »Cass Shelleys Mörder konnten nicht sicher sein, dass ihr Opfer tot war. Sie mussten sich ständig bedroht fühlen. Und eine fehlende Leiche hielt das Interesse lebendig.«
Augusta nickte. »Gruslige Geschichten ziehen immer. Der Fall hat den Tourismus enorm angekurbelt. Haben Sie womöglich Betty Haie im Verdacht, die Leiche gestohlen zu haben? Möglich wär's. Betty ist eine gewiefte Geschäftsfrau.«
Charles schwieg so lange, bis Augusta ihn ansah. »Glauben Sie nicht, dass es ein Trost für Mallory wäre, wenn sie wüsste, wo ihre Mutter begraben liegt?«, fragte er dann.
»Nein, Charles, das glaube ich nicht. Sie ist eine erstaunlich klarsichtige junge Frau, die sich mit keinem bisschen Gefühl belastet. Ihr genügt es zu wissen, dass ihre Mutter tot ist. Solange Cass noch atmete, hätte Kathy sie nie allein gelassen.«
Augusta fuhr mit einem Finger behutsam über den allmählich heilenden Riss in dem Fledermausflügel.
»Und Sie wollen gar nichts über die Leiche wissen, Augusta?«
»Nein.« Sie tröpfelte ein ekelhaft riechendes Gebräu aus einem dunklen Fläschchen auf die Wunde.
»Weil Sie wissen, wo sie liegt. Der Finger Bayou zeigt im wahrsten Sinne des Worte auf ihr Grab. Sind Sie deshalb ihre Testamentsvollstreckerin geworden? Damit sie an der Grundstücksgrenze zu Cass Shelleys Haus die Herbizidspritzungen untersagen konnten! Als die Wasserhyazinthen sich ungehemmt vermehrten, wurde der Bayou für Boote unpassierbar. Und dann haben Sie auf der Straße nach Trebec House Bäume gepflanzt, um Besucher abzuschrecken, denn Betty versteht sich sehr gut darauf, die Sensationslust der Touristen zu wecken.«
»Eine interessante Theorie. Und gar nicht mal so unlogisch.« Sie verband die Wunde neu und legte die Fledermaus wieder in den Karton.
»Es ist Ihr Stil, Augusta. Sie haben Cass Shelley und dann Kathy in jenem Haus aufwachsen sehen. Und als Sie erleben mussten, was man Cass angetan hat, haben Sie sich nicht damit zufrieden gegeben, den Fall der Justiz zu überlassen, sondern auf sehr originelle Art und Weise Rache genommen.«
»Und wann soll ich das alles bewerkstelligt haben? Es war Henry, der die Tote gefunden hat.«
»Er hat den Mord am nächsten Morgen gemeldet. Sie hatten die ganze Nacht zur Verfügung, um die Leiche verschwinden zu lassen.«
»Ich habe nichts gehört, als man sie ermordete, das schwöre ich.«
Und das glaubte er ihr sogar. »Der Mob hat keinen Lärm gemacht, das stimmt, aber einen vor Schmerz jaulenden Hund hört man meilenweit. Das Jaulen hat Ihnen zu denken gegeben. Sie konnten den Hund von Ihrem Fenster aus sehen und sind hingegangen, um ihm zu helfen. Für ein verwundetes Tier würden Sie alles tun.« Die Katze hatte Augusta verraten. Sie war eine natürliche Feindin ihrer geliebten Vögel, und trotzdem hatte sie dem Tier das Leben gerettet. Und jetzt pflegte sie eine jener Fledermäuse gesund, die sie einmal als Eulenfutter bezeichnet hatte.
»Sie reden dummes Zeug, Charles.«
»Die Täter hatten ihre Spuren, wie Mallory richtig gesagt hat, nicht verwischt, keiner hatte auch nur den Versuch gemacht, das Verbrechen zu verschleiern. Der Sheriff hat mir erzählt, dass die Hintertreppe geputzt worden war, als er am Tatort eintraf. Ich glaube, davon weiß Mallory nichts, denn sonst wäre sie schon vor mir auf die Lösung gekommen. Sie haben die Tote die Treppe hinuntergetragen, Augusta, und danach haben Sie Ihre Spuren getilgt und auch diejenigen, die Kathy hinterlassen hat, als sie aus dem Haus geflohen ist.«
»Der Sheriff hat sich auf meinem Grundstück ausgiebig umgesehen.« Sie stieß die Fledermaus behutsam mit einem Finger an, bis sie aus ihrem Kräuterschlaf erwachte. »Sogar den Finger Bayou hat er mit einem Schleppnetz abgesucht.«
»Sie haben die Leiche
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