Der steinerne Engel
zu Hause liegen lassen, wenn sie auf Reisen gehen.
Charles wandte sich wieder dem Durchgang zwischen dem Büro des Sheriffs und der Feuerwehr zu. Der stumme Bildhauer hatte inzwischen Mallorys Zelle entdeckt. Er sah zu dem Fenster im ersten Stock hinauf und sprach mit den Händen. Charles überquerte den Platz, um ihm zuzusehen.
Dabei fiel sein Blick auf einen Mann, der auf einer hölzernen Bank vor dem Büro des Sheriffs saß. Sein Gesicht war dem auf den T-Shirts sehr ähnlich, der Ausdruck allerdings war weit weniger theatralisch, dafür aber intelligenter als bei Babe Laurie. Er mochte fünfunddreißig sein und hatte sandfarbenes Haar, das bis zum Kragen des Baumwollhemds reichte. Er sah ihn aus sanften blauen Augen an und nickte ihm freundlich zu, als sei Charles ein guter alter Bekannter.
Die Aufforderung war unübersehbar. Komm, setz dich zu mir, reden wir miteinander, sagte sein Blick.
Zum Glück erinnerte sich Charles jetzt wieder daran, dass er anderswo dringender gebraucht wurde. Leicht benommen wie jemand, der jäh aus tiefem Schlaf erwacht ist, wandte er sich ab, trat neben Henry Roth und konzentrierte sich darauf, seine Zeichensprache zu lesen.
Hinter den Gitterstäben im ersten Stock bewegten sich zwei weiße Hände. »Sag ihm, er soll abhauen«, las Charles.
Der Bildhauer sah kurz zu ihm hin und zuckte die Schultern, dann wandte er sich wieder dem Fenster zu und setzte das Gespräch fort.
Charles starrte auf seine Schuhspitzen. Abhauen? Hatte er deshalb über tausend Meilen zurückgelegt?
Er drehte den beiden den Rücken und ging zu dem Brunnen, der auf dem Marktplatz stand. Aus kunstvoll verschnörkelten Rohren plätscherte das Wasser in ein großes Becken, darüber tänzelte ein gesatteltes Bronzepferd ohne Reiter, das Charles sein Hinterteil zuwandte.
Wie passend!
Er machte eine Runde um das große Brunnenbecken und dachte an die vielen schlaflosen Nächte, die er ihretwegen verbracht, an die vielen Sorgen, die er sich um sie gemacht hatte. Doch dann vergaß er sowohl sein Selbstmitleid als auch seine angeborenen guten Manieren und war nur noch wütend. Diesmal würde er sich von Mallory nicht herumkommandieren lassen! Er stürmte die Stufen zum Büro des Sheriffs hinauf und riss die Tür auf.
Im Vorzimmer saß Augustas Cousine. Die braune Uniform mit den kurzen Ärmeln war so steif gestärkt, dass der Stoff eher brechen als knittern würde. Lilith Beaudare wischte an dem Monitor ihres Computers herum, aber es war eine mechanische Bewegung, denn mit den Augen und Ohren war sie ganz bei dem, was sich im Zimmer des Chefs abspielte. Auch Charles sah jetzt durch die offene Tür.
Eine Frau im grauen Kostüm stand vor einem hemdsärmeligen Mann in Jeans. Auf einem zerknautschten, nachlässig über einen Sesselrücken gehängten Leinenblazer blitzte der Sheriffstern. Trotz der lässigen Kleidung ging Autorität von ihm aus. Er hatte die Arme verschränkt, um anzudeuten, dass er nicht daran dachte, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Die Frau hatte die Hände in die Hüften gestemmt und signalisierte damit, dass sie sich nicht von der Stelle rühren würde, bis sie bekommen hatte, was sie wollte.
Neben den beiden stand ein junger Mann mit leerem Blick, der tat, als ginge ihn das alles nichts an. Er war schlank und ziemlich klein, hatte ein unschuldiges, glattes Gesicht und an beiden Händen dicke Verbände.
Deputy Lilith Beaudare warf Charles einen kurzen Blick zu, als er einen Schritt näher zur Tür trat, sagte aber nichts. Sie lauschten in freundschaftlichem Einvernehmen.
»Malcolm hat zu Protokoll gegeben«, sagte der Sheriff zu der Frau mit dem hellbraunen Haar, »dass Babe deinen Jungen sehr höflich gebeten hat, nicht immer wieder dieselben fünf Noten zu klimpern. Da ist der Junge ausgeflippt und hat Babe angegriffen. Was dann geschah, war Notwehr, sagt Malcolm.«
Die Frau sah den Sheriff an, als sei er geradewegs vom Mond gekommen, wo andere Sitten und Gesetze herrschten. »Dass Babe meinem Ira mit einem Klavierdeckel die Finger gebrochen hat, soll Notwehr gewesen sein?« Sie hob ungehalten die Hände. Vielleicht überlegte sie, ob diese Worte in der Mondsprache wohl dieselbe Bedeutung hatten. »Hast du schon mal erlebt, dass mein Junge gewalttätig geworden ist? Ira sind Körperkontakte in jeder Form zuwider, und das weißt du ganz genau. Schon daran hättest du merken können, dass Malcolm Laurie lügt.«
Der junge Mann mit den verbundenen Händen sah, unbeeindruckt von
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