Der Stern von Yucatan
die Hände vors Gesicht, und versuchte zu analysieren, warum alles so schiefgelaufen war.
Diese Anziehung, die Gary Franklin auf sie ausübte, hatte schon sehr früh begonnen, wie sie zugeben musste. Möglicherweise schon am Tag ihrer Einstellung. Nach Marks Tod hatte sie weiter in der Bank gearbeitet. Da sie gut mit Menschen umgehen konnte, hatte man ihr jedoch geraten, ihr Glück im Verkauf zu suchen. Sie hatte ein Jahr gebraucht, den Mut zu finden, ihren sicheren Job von acht bis fünf aufzugeben. Einige Vorstellungstermine waren negativ verlaufen, bis sie den Job bei Med-X bekommen hatte, wo sie sich sofort ins Team einfügte und unerwarteten Erfolg verbuchen konnte. Alle waren nett und hilfreich und gaben ihr gute Ratschläge.
Besonders Gary Franklin.
Ja, sie hatte ihn sofort gemocht. In den Anfangswochen war er ein wenig steif und sogar etwas herablassend gewesen, doch sie hatte bald durchschaut, dass das nur Fassade war. Sie hatte hart daran gearbeitet, ihn zum Lächeln zu bringen. Als es ihr dann gelang, war sie sich vorgekommen, als hätte sie einen dicken Auftrag an Land gezogen. Danach hatte er leichter und öfter gelächelt.
Dass er verlobt war, hatte sie erst vor Kurzem herausgefunden. Er hatte seine Verlobte nie erwähnt. Mit keinem Wort. Vermutlich gehörte er zu den Menschen, die ihr Privatleben strikt vom Beruf trennten.
Dann hatte sie erfahren, dass seine Verlobte außer Landes Urlaub machte. In Mexiko, wie gerüchteweise im Büro verlautete. Für sie ergab das keinen Sinn. Die Frau, die er heiraten wollte, machte wenige Monate vor ihrer Hochzeit allein einen verlängerten Urlaub?
Ihr Fehler war es gewesen, das erkannte sie nun, Gary zum Dinner einzuladen und ihn Brice vorzustellen. Die beiden waren auf Anhieb blendend miteinander ausgekommen. Und es war nicht nur Brice, der verrückt nach Gary war. Sie hatte sich sehenden Auges in Liebeskummer gestürzt, und trotzdem hatte sie nicht anders gekonnt.
Als sie ihn wegschickte, hatte Gary ganz verloren und durcheinander ausgesehen. Gefühle, die sie nur zu gut verstand. Sie hatte ihren Mann geliebt und um ihn getrauert – und nun war sie so schrecklich allein. Da Gary auch allein war, hatte sie die Einladung zum Dinner für einen schlichten Akt der Freundlichkeit gehalten und als Möglichkeit gesehen, ihm für seine Hilfsbereitschaft zu danken.
Tief im Innern wusste sie, dass ihre Einladung mehr gewesen war als bloße Höflichkeit oder eine Geste der Freundlichkeit und des Mitgefühls. Er war verlobt, und deshalb hätte sie engeren gesellschaftlichen Kontakt meiden sollen. Doch sie sehnte sich nach seiner Gesellschaft. Sie hatte einen ganzen Morgen darüber nachgedacht, ob eine Einladung klug war, und die Entscheidung letztlich ihm überlassen. Seine Bereitwilligkeit zu kommen hatte schließlich ihre Bedenken zerstreut. Wenn er eine Dinnereinladung bei ihr nicht für unschicklich hielt, brauchte sie das auch nicht.
Sein Kuss an dem Abend hatte sie sehr erstaunt, aber auch ehrlich gefreut. Ihr war klar, dass es falsch war und dass sie keine Gefühle für Gary entwickeln durfte. Sie musste auch an Brice denken. Bereitete sie nicht auch ihm Kummer, wenn sie eine Freundschaft zuließ, die bald wieder beendet werden musste? Er hatte während des gesamten Essens mit Gary über Baseball gesprochen, und seither sprach er nur noch von Gary. Gary hier und Gary da. Was nicht zuletzt daran lag, dass Gary eine Stunde lang Ballfangen mit ihm geübt hatte. Es hatte fast den Anschein gehabt, als sei Gary Brices Gast gewesen – nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte.
“Ich denke, wir sollten ihn heiraten”, hatte ihr Sohn ihr am Abend vorgeschlagen, als sie ihn zu Bett brachte.
“Brice, ich kenne den Mann kaum.”
“Dann lade ihn wieder ein.”
Wie einfach das mit dem Kennenlernen und Heiraten für einen Neunjährigen war. “Er ist bereits verlobt.”
Brice riss die Augen auf. “Du meinst, er will eine andere heiraten?”
“Sieht so aus.”
“Du musst was dagegen tun, Mom.”
“Irgendwelche Vorschläge?”
Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. “Koche für ihn. Deine Lasagne hat ihm prima geschmeckt.”
Selbst jetzt konnte Marjorie ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als sie sich an diese Unterhaltung erinnerte. Genau diesen altmodischen Rat hätte ihr auch ihre Großmutter gegeben.
“Mom! Mom!” Brice stürmte, vom Baseballtraining kommend, durch die Tür. “Wo bist du?”
Marjorie warf einen Blick auf die Uhr, erstaunt, dass
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