Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
Die kleineren und größeren Kiesel und Feldsteine ließ Hofgärtner Friedrichs unten an der Schlei zusammentragen, man wollte sie später für weitere Bauten und Wasserspiele verwenden.
Über Wochen war Sophie mit der schweren Last auf dem Rücken den Hang hinauf- und hinuntergestiegen. Ihr Lohn waren Morgen- und Abendsuppe, etwas Brot und Grütze und ein Lager in einem der Gesindehäuser, wo sie schlafen konnte. Geld, so hieß es, würde sie erst bekommen, wenn sie sich bewährt hätte. Wenn Hofgärtner Friedrichs also irgendwann ihren Namen mit einem Gesicht verbinden könnte.
Als im Dezember der erste Nachtfrost das Erdreich in eine harte, glitzernde und undurchdringliche Masse verwandelt hatte, waren die Gartenjungen in die Stallungen abkommandiert worden. Sophie hatte sich mit einigen anderen Burschen um das herzogliche Federvieh kümmern müssen. Neben Hühnern, Enten, Gänsen, Fasanen und Schwänen hielt Herzog Friedrich auch Pfaue in seinen Gärten, die in der kalten Jahreszeit in beheizbaren Ställen überwinterten. Die leuchtend blauen Hähne und ihre weniger auffälligen Gefährtinnen waren zutraulich, nach kurzer Zeit fraßen sie Sophie aus der Hand und ließen sich von ihr Brust und Federkrone kraulen. Und selbst als die Vögel mit den wärmeren, länger werdenden Tagen wieder frei durch die Gärten streiften, folgten sie Sophie auf die Terrassen des Neuen Werks und unterhielten sie dort mit ihrem prächtigen Federspiel. In der Sonne schimmerte das kobaltfarbene Gefieder grünlich und golden wie die kostbarsten Juwelen. Doch wenn die Pfauenhähne balzend ihr Rad schlugen, sah sie auf ihrem Federfächer Hunderte Augen, die ihr spöttisch zuzuzwinkern schienen. Es war, als ob die Vögel Sophies Geheimnis aller Welt enthüllten.
» Minh-ao« , schrien die Hähne und umkreisten sie stolz und federrasselnd. » Minh-ao – es ist doch ein Mädchen.«
Doch niemand schien zu sehen, dass sich unter Hemd und Hose, unter der ledernen Weste und der sommersprossigen Haut ein Mädchen verbarg, das härter als all die anderen Jungen arbeitete, um nicht aufzufallen. Das sich nie vor den anderen wusch oder entkleidete und das allen Balgereien und Raufereien aus dem Weg ging. Und so war im Labyrinth der Gärten von Schloss Gottorf aus Sophie Sophian geworden – der Gartenjunge Sophian.
Sophie hatte nicht geplant, ihre wahre Identität zu verbergen. Doch als sie in die Gartenwerkstatt gekommen war, hatte niemand nach ihrem Geschlecht gefragt. Wie selbstverständlich war man davon ausgegangen, dass das kurze, wirre Haar und die Hosen nur zu einem Jungen gehören könnten. Und dann hatte es kein Zurück mehr gegeben. Wie hätten die anderen sich auch erklären sollen, dass die Kleidungsstücke Sophie an ihren toten Bruder Christian erinnerten? Dass sie sich darin geborgen fühlte und wie von einer liebevollen Umarmung gehalten. Und dass ihr langer Zopf als Geschenk bei der kleinen Schwester geblieben war.
Melissa. Und Christian … Plötzlich sah sie das Gesicht des Bruders wieder vor sich, seinen warmen Blick, ein Lächeln, das seine Lippen kräuselte, die fröhlichen Grübchen. Und in diesem Moment, wie in einem Traum, war sie ihm ganz nah. Sehnsuchtsvoll streckte sie die Arme nach diesem Bild aus, sie wollte den Bruder in ihre Arme ziehen, seinem Herzschlag lauschen, seine Wärme spüren. Die Einsamkeit und Trauer vertreiben, die sie selbst inmitten der Horde der lärmenden Gartenjungen immer in sich trug.
Sophie spürte Tränen hinter ihren geschlossenen Lidern brennen, sie blinzelte. Doch das Bild des Bruders war auch seltsam tröstlich, es tat ihr gut, an ihn zu denken. Seufzend sog sie den Duft des Waldes ein, den Geruch nach feuchter Erde, Moos und Laub. Dann glitt sie fort an einen anderen Ort.
Ein Geräusch schreckte sie aus ihren Träumereien auf. Blätter raschelten, Zweige brachen. Sophie öffnete die Augen. Sie lauschte, etwas bewegte sich den Hang hinauf. War es ein Reh, ein Pfau oder gar ein Mensch, der wie sie nach Stille und Einkehr suchte?
Vorsichtig setzte sie sich auf und kam auf die Knie. Dann blinzelte sie durch das Buschwerk. Da, eine Gestalt! Zunächst sah sie nur einen Schatten, der sich in ihre Richtung bewegte. Die schräg einfallende Abendsonne verschleierte das Gesicht des Unbekannten. Es war ein Junge, so viel konnte sie erkennen, der nun stehen blieb, um sich kerzengerade und mit dem Rücken zur Sonne aufzustellen.
Leise bog Sophie die Zweige zurück. Der Fremde war ihr jetzt so
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