Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
Räume der Orangerie verlassen und war an einen windgeschützten Platz auf den Schlosshof umgezogen. Jeden Morgen, nach der Morgensuppe und dem Gebet, inspizierte der Gartenmeister seinen Schützling, um später den Herzog über das Fortschreiten der Blüte zu informieren. Die weitere Pflege war Sophie überlassen.
Die Arbeit war leicht: Täglich polierte sie die fleischigen, lanzenförmigen Blätter mit einem weichen Tuch und einmal in der Woche bekam die Pflanze drei Becher lauwarmen Regenwassers, die sie sorgfältig abmaß. Sonst tat sie nicht viel. Sophie hatte lediglich neben der kostbaren Agave zu sitzen, um den Blütentrieb vor Insekten und Vögeln und vor der neugierigen Kinderschar des Herzogs zu schützen. Mit einem Wedel aus Pfauenfedern vertrieb sie jeden zudringlichen Gast. Mit einer Glocke, die der Hofgärtner ihr überlassen hatte, sollte sie im Notfall Alarm schlagen.
Doch die Tage verliefen im eintönigen Rhythmus quälender Ereignislosigkeit. Für etwas Abwechslung sorgten lediglich die Besuche von Catharina Olearius und deren Studien. Sophie half ihr bei den Messungen und versuchte sich ebenfalls an kleinen Skizzen. Erst am Abend durfte sie ihren Posten verlassen. Für die Nacht hatte der Herzog eine Wache abstellen lassen.
»Ist fast so, als ob die Herzogin ein Kind bekommt«, hatte Catharina Olearius das Treiben um die Agave spöttisch kommentiert. Sophie hatte vorsichtig genickt, sie war nicht sicher, ob ihr eine Bemerkung über den Sinn ihrer Tätigkeit zustand. Doch je mehr Zeit sie allein mit der Pflanze verbrachte, desto seltsamer erschien ihr die Aufgabe. Sie vermisste Farid, den sie erst abends im Quartier der Gartenjungen sah, und sie sehnte sich danach, mit ihren Händen in der Erde zu graben und etwas zu schaffen. Die Ruhe und Tatenlosigkeit erschöpften sie mehr als die Arbeit am Hang, und in den vielen ereignislosen Stunden im Schatten der Agave kreisten ihre Gedanken unentwegt um ihre Erinnerungen an den Vater und Bruder. Zuletzt ertappte sie sich sogar im Zwiegespräch mit der Wüstenblume. Sie hatte dem stummen Nachbarn von ihrem letzten Sommer mit Christian erzählt.
Die Agave blühte Mitte Juni. Der Blütenstand hatte eine Länge von etwas mehr als einer Rute erreicht, an seiner Spitze saßen dicht an dicht kurzstielige, röhrenförmige Blüten von gelb-bräunlicher bis rötlicher Färbung. Um die Blüte, die – so empfand es Sophie – mehr einem dürren, an seiner Spitze ausgefransten Pinsel als einem fantastischen Ereignis glich, zu sehen, musste der Herzog sich eine Leiter hinaufbequemen. Fast eine Stunde verharrte er regungslos und wie im Gebet in der Höhe, dann kehrte er, etwas schwindelig, aber mit einem seligen Lächeln, in die Mitte seines Gefolges zurück.
»Wir werden dieses Spektakel zu unseren Lebzeiten wohl nie wieder erleben«, sagte er und Sophie sah, dass sich Wehmut in seinen Augen spiegelte. »Aber die blühende Agave wird für alle Zeiten ein Teil der herzoglichen Bibliothek und Wunderkammer sein und dem Hause Gottorf zur Ehre gereichen.« Er wies auf das Buch mit den Notizen und Zeichnungen von Catharina Olearius. Ihr Mann hatte es binden lassen und mit einem Vorwort versehen, in dem er eine »historische, physische und medizinische Beschreibung« der blühenden Aloe ankündigte. Die Festschrift war über Nacht entstanden.
Es war alles gut gegangen. Zuletzt hatte Sophie unter Albträumen gelitten, dass ein Windstoß den Blütenstand brechen oder ein Vogel die Blüte plündern könnte. Olearius und Friedrichs jedenfalls erhielten eine Belohnung für ihre Verdienste um die hundertjährige Aloe, während der Gartenmeister seinem Burschen mit einem anerkennenden Schlag auf die Schulter für seinen geduldigen Dienst dankte. Sophie war froh, dem merkwürdigen Gewächs den Rücken kehren zu können. Und insgeheim dankte sie Gott, dass man sie auf Schloss Gottorf wohl niemals wieder an die Seite einer Agave setzen würde. Ihr Leben, so viel wusste sie, wäre schlicht zu kurz, um diesem seltenen Ereignis noch einmal beizuwohnen.
Die Sterne schwiegen an diesem Abend. Seufzend löste Olearius sich von seinem Fernrohr und trat an seinen Arbeitstisch. Wie so oft in letzter Zeit betrachtete er die Notizen und Berechnungen darauf mit Unbehagen. War sein Forschen überhaupt von Nutzen? Rührte er an den unumstößlichen Gesetzen der Logik und Physik? Er setzte sich und mischte Tinte an, dann ließ er seine Gedanken nach Isfahan schweifen. Die Persische Reise –
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