Der stille Amerikaner
von Phat Diem aus hätte melden können, wäre von der Zensur durchgelassen worden. Wäre die Story gut genug gewesen, hätte ich nach Hongkong fliegen und sie von dort absenden können. Doch war irgendeine Nachricht gut genug, um ihretwegen die Ausweisung zu riskieren? Ich bezweifelte es. Die Ausweisung hätte das Ende eines ganzen Lebens, hätte den Sieg Pyles bedeutet. Und da: als ich in mein Hotel zurückkehrte, erwartete mich in meinem Brieffach tatsächlich sein Sieg, das Ende der Affäre – ein Glückwunschtelegramm zur Beförderung. Diese Marter hatte Dante für seine verdammten Liebenden nie ersonnen. Paolo avancierte nie zum Purgatorio.
Ich ging hinauf in mein nüchternes Zimmer, wo der Kaltwasserhahn tropfte (in ganz Hanoi gab es kein heißes Wasser), und setzte mich auf den Rand des Bettes; über mir hing gleich einer mächtigen Wolke der Bausch des Moskitonetzes. Ich sollte die Stelle des Auslandsredakteurs übernehmen, sollte jeden Nachmittag um halb vier in dem finsteren viktorianischen Gebäude in der Nähe des Bahnhofs Blackfriars erscheinen, wo sich neben der Fahrstuhltür eine Gedenktafel für Lord Salisbury befindet. Man hatte mir diese Freudenbotschaft aus Saigon nachgesandt, und ich fragte mich, ob sie bereits Phuong zu Ohren gekommen war. Ich sollte nicht mehr Berichterstatter sein: Ich sollte Ansichten haben, und als Gegenleistung für dieses wertlose Privileg nahm man mir meine letzte Chance im Zweikampf mit Pyle. Seiner Unschuld konnte ich meine Erfahrung entgegenstellen, das Alter war im Spiel um die Liebe eine ebenso gute Karte wie die Jugend. Doch jetzt hatte ich nicht einmal mehr die begrenzte Zukunft von zwölf Monaten zu bieten, und eine Zukunft war Trumpf. Ich beneidete den ärmsten, von Heimweh gequälten Offizier, der dazu verurteilt war, hier sein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich hätte gern geweint, aber meine Tränendrüsen waren so ausgetrocknet wie die Heißwasserleitung. Oh, ich verzichtete auf die Heimat – ich wollte nur mein Zimmer in der Rue Catinat.
Es war kalt in Hanoi nach Einbruch der Dunkelheit, und die Lichter waren gedämpfter als jene in Saigon; sie paßten besser zur dunkleren Kleidung der Frauen und zum Krieg. Ich ging durch die Rue Gambetta zur »Pax Bar« – ich wollte nicht im »Metropole« mit den höheren französischen Offizieren, ihren Gattinnen und ihren Freundinnen trinken. Und als ich bei der Bar anlangte, vernahm ich fernen Geschützdonner aus der Richtung von Hoa Binh. Bei Tag wurde er vom Lärm des Straßenverkehrs übertönt, aber jetzt war alles still bis auf das Geklingel der Fahrradglocken, mit dem die Rikschafahrer um ihre Kunden warben. Pietri saß an seinem gewohnten Platz. Er hatte einen merkwürdig langgezogenen Schädel, der ihm auf den Schultern saß wie eine Birne auf einer Schüssel; er war Beamter der Sureté und war mit einer hübschen Tonkinesin verheiratet, der die »Pax Bar« gehörte. Auch er hatte kein besonderes Verlangen heimzukehren. Er stammte aus Korsika, zog aber Marseille vor, und Marseille gegenüber zog er jederzeit seinen Platz auf dem Gehsteig der Rue Gambetta vor. Ich fragte mich, ob er den Inhalt meines Telegramms bereits kannte.
»Quatre Cent Vingt-et-un?« fragte er.
»Warum nicht?«
Wir begannen zu würfeln, und es schien mir unmöglich, daß es für mich je wieder ein Leben geben könnte fern der Rue Gambetta und der Rue Catinat, ohne den schalen Geschmack von Vermouth-Cassis, das anheimelnde Klappern der Würfel und ohne den Kanonendonner, der gleich einem Uhrzeiger rings um den Horizont wanderte.
Ich sagte: »Ich fahre zurück.«
»Nach Hause?« fragte Pietri, während er vier-zwei-eins warf.
»Nein. Nach England.«
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Pyle hatte sich selbst zu einem Drink eingeladen, wie er es nannte; ich wußte aber sehr wohl, daß er eigentlich nicht trank. Jetzt, nach Ablauf mehrerer Wochen, schien jenes phantastische Zusammentreffen in Phat Diem kaum glaublich: Sogar die Einzelheiten unserer damaligen Gespräche hatte ich nur noch undeutlich in Erinnerung. Sie ähnelten den fehlenden Buchstaben auf einem römischen Grabstein, und ich einem Archäologen, der die Lücken der Inschrift entsprechend seiner wissenschaftlichen Ausrichtung ausfüllt. Ich kam sogar auf den Gedanken, daß Pyle mich zum besten gehalten hatte und daß unsere Unterhaltung eine sorgsam ausgeklügelte und humorvolle Tarnung seiner wahren Absichten gewesen war. Denn in Saigon klatschte man bereits darüber, daß
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