Der stille Amerikaner
dann wäre ich nur für mein eigenes Leben verantwortlich und nicht auch für das seine – und er wollte leben. Ich preßte die Finger meiner freien Hand fest gegen die Oberlippe, wie man das schon als Kind lernt, um sich beim Versteckenspielen nicht zu verraten. Aber der Niesreiz hielt an, drohte, jeden Moment in ein Niesen auszubrechen, und lautlos im Dunkel warteten die anderen auf dieses Niesen. Es kam, kam, war da …
Doch in derselben Sekunde, als ich nieste, feuerten die Vietminh aus ihren Maschinenpistolen und durchkämmten in einer Feuerlinie das Reisfeld. Das harte Hämmern, das wie eine Maschine klang, die in eine Stahlplatte Löcher stanzt, verschluckte mein Niesen. Ich holte tief Atem und tauchte mit dem Kopf unters Wasser – so instinktiv weicht man vor dem Ersehnten zurück, kokettiert man mit dem Tod wie eine Frau, die sich wünscht, von ihrem Geliebten überwältigt zu werden. Über uns wurde der Reis niedergefegt, und dann war der Sturm vorüber. Wir tauchten beide gleichzeitig zum Atemholen auf und hörten, wie sich die Schritte zum Turm hin entfernten.
»Wir haben’s geschafft!« sagte Pyle, und selbst in meinem Schmerz fragte ich mich, was wir geschafft hätten: ich für mein Teil das Greisenalter, den Bürostuhl eines Redakteurs, die Einsamkeit; und was ihn anlangt, so weiß ich heute, daß er damals voreilig sprach. Dann richteten wir uns im kalten Wasser darauf ein, zu warten. Auf der Straße nach Tanyin loderte ein Feuer auf: Es brannte heiter wie bei einem Fest.
»Das ist mein Wagen«, sagte ich, und Pyle meinte: »Eine Schande ist es, Thomas. Ich hasse sinnlose Vergeudung.«
»Es muß gerade noch genug Benzin dagewesen sein, um das Feuer zu entfachen. Ist Ihnen auch so kalt wie mir, Pyle?«
»Es könnte mir nicht kälter sein.«
»Wie wär’s, wenn wir hinausstiegen und uns flach auf die Straße legten?«
»Geben wir ihnen noch eine halbe Stunde Zeit.«
»Den Großteil meines Gewichts tragen aber Sie!«
»Ich kann es aushalten, ich bin noch jung.« Das war humorvoll gemeint, aber es traf mich eiskalt wie das schlammige Wasser. Ich hatte die Absicht gehabt, mich für die Art zu entschuldigen, in der ich meinem Schmerz Ausdruck gegeben hatte, aber jetzt meldete sich dieser Schmerz von neuem. »Klar, Sie sind jung. Sie können sich’s leisten, zu warten, nicht wahr?«
»Ich verstehe Sie nicht, Thomas.«
Mir schien es, als ob wir bereits eine Woche lang die Nächte miteinander verbracht hätten, und doch konnte er mich nicht mehr verstehen, wie er Französisch verstand. »Es wäre für Sie besser gewesen, wenn Sie mich dort liegengelassen hätten.«
»Ich hätte Phuong nicht unter die Augen treten können«, sagte er, und der Name lag da wie das Angebot des Bankhalters beim Glücksspiel. Ich nahm es an.
»Also ihretwegen haben Sie es getan«, sagte ich. Was meine Eifersucht noch unsinniger und demütigender machte, war der Umstand, daß ich ihr im leisesten Flüsterton Ausdruck verleihen mußte – es fehlte ihr an Lautstärke, und die Eifersucht liebt nun mal das Theatralische. »Sie meinen wohl, Sie werden sie bekommen, wenn Sie den Helden spielen. Da irren Sie sich aber gewaltig. Wenn ich tot wäre, dann hätten Sie sie haben können.«
»So habe ich es nicht gemeint«, sagte Pyle. »Wenn man liebt, dann möchte man ein ehrliches Spiel spielen, weiter nichts.«
Das stimmt, dachte ich mir, aber nicht im dem Sinn, wie er es sich in seiner Unschuld vorstellt. Wenn man liebt, dann sieht man sich selbst mit den Augen eines anderen, ist man in ein verfälschtes, veredeltes Abbild seiner selbst verliebt. In der Liebe sind wir eines ehrenhaften Verhaltens nicht fähig – auch die mutige Tat ist nichts anderes als eine Rolle, gespielt für zwei Zuschauer. Ich war vielleicht nicht mehr verliebt, aber ich erinnerte mich sehr wohl daran.
»Im umgekehrten Fall hätte ich Sie im Stich gelassen«, sagte ich.
»O nein, das hätten Sie nicht getan, Thomas.« Mit unausstehlicher Selbstgefälligkeit fügte er hinzu: »Ich kenne Sie besser als Sie sich selbst.« Voll Zorn versuchte ich von ihm abzurücken und mein Gewicht selbst zu tragen, aber wieder brauste der Schmerz heran, heulend wie ein Zug in einem Tunnel. Ich lehnte mich noch schwerer gegen ihn, um nicht tiefer ins Wasser zu sinken. Pyle schlang beide Arme um mich und hielt mich hoch. Dann fing er an, mich Zoll um Zoll gegen das Ufer und den Straßenrand hinzuschieben. Als er mich dorthin geschafft hatte, ließ er mich flach in
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