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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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den seichten Schlamm unter der Böschung des Feldrains gleiten, und als der Schmerz wieder von mir wich, und ich die Augen aufschlug und freier atmete, konnte ich die kunstvollen Zeichen der Gestirne sehen – fremde Zeichen, die ich nicht zu lesen verstand: Es waren nicht die Sterne der Heimat. Sein Gesicht erschien über mir und löschte den Sternenhimmel aus. »Ich gehe die Straße entlang, Thomas, bis ich auf eine Patrouille stoße.«
    »Seien Sie nicht verrückt«, sagte ich. »Die schießen Sie nieder, bevor sie wissen, wer Sie sind. Wenn nicht die Vietminh Sie vorher erwischen!«
    »Es ist unsere einzige Chance. Sie können nicht noch sechs Stunden im Wasser liegen.«
    »Dann legen Sie mich auf die Straße.«
    »Es hat wohl nicht viel Sinn, Ihnen die Maschinenpistole dazulassen?« fragte er zweifelnd.
    »Natürlich nicht! Wenn Sie schon unbedingt ein Held sein wollen, dann gehen Sie wenigstens vorsichtig durch den Reis.«
    »Dann würde aber die Patrouille vorbeifahren, bevor ich ihr ein Signal geben kann.«
    »Außerdem sprechen Sie nicht französisch.«
    »Ich werde ›Je suis Frongçais‹ rufen. Keine Sorge, Thomas. Ich werde schon aufpassen.« Ehe ich noch etwas erwidern konnte, war er aus der Reichweite einer flüsternden Stimme entschwunden – er bewegte sich so geräuschlos wie er es nun schon konnte, mit häufigen Pausen. Ich konnte ihn im Lichtschein meines brennenden Wagens deutlich sehen, aber kein Schuß folgte; bald war er über den Bereich des Feuerscheins hinaus, und lautlose Stille schlug über seinen Schritten zusammen. O ja, er war vorsichtig, so wie er auf der Bootsfahrt flußabwärts nach Phat Diem vorsichtig gewesen war, mit der Vorsicht des Helden in einer Abenteuergeschichte für Jungen, so stolz auf seine Vorsicht wie auf ein Pfadfinderabzeichen, und ohne die leiseste Ahnung, wie unsinnig und unwahrscheinlich sein Abenteuer war.
    Ich lag da und lauschte auf Schüsse von seiten der Vietminh oder einer Patrouille der Fremdenlegion, aber alles blieb still – Pyle würde wahrscheinlich eine Stunde oder sogar länger brauchen, um einen Wachtturm zu erreichen, falls er überhaupt so weit kam. Ich wandte den Kopf zur Seite, so daß ich erkennen konnte, was von unserem Turm übriggeblieben war: ein Haufen von Lehm, Bambusstöcken und Holzstützen, der tiefer zu sinken schien, während die Flammen meines Wagens in sich zusammensanken. Ich empfand ein Gefühl des Friedens, sobald der Schmerz abklang – gewissermaßen ein Waffenstillstand für die Nerven: Ich hatte Lust zu singen. Ich dachte, wie seltsam es war, daß Männer meines Berufs aus dieser ganzen Nacht eine Meldung von nur zwei Zeilen machen würden; es war bloß eine ganz gewöhnliche Nacht, und das einzig Ungewöhnliche daran war ich. Dann hörte ich, wie aufs neue ein leises Wimmern von der Turmruine her einsetzte. Einer der Posten mußte immer noch am Leben sein.
    Der arme Teufel, ging es mir durch den Sinn. Wären wir nicht ausgerechnet vor seinem Turm steckengeblieben, hätte er sich beim ersten Anruf aus dem Megaphon entweder ergeben können, wie sich fast alle ergaben, oder er hätte fliehen können. Aber wir waren dagewesen – zwei Weiße, und wir hatten die Maschinenpistole, und sie wagten sich nicht zu rühren. Als wir sie endlich verließen, war es zu spät. Es war meine Schuld, daß dort in der Dunkelheit jemand wimmerte: Ich hatte mich gebrüstet, unbeteiligt zu sein, nichts mit diesem Krieg zu tun zu haben. Aber jene Wunden waren von mir geschlagen worden, genauso, als hätte ich mit der Maschinenpistole geschossen, wie es Pyle hatte tun wollen.
    Ich mühte mich, über die Böschung auf die Straße hinaufzukriechen. Ich wollte zu dem Verwundeten gelangen. Es war das einzige, was ich tun konnte: seinen Schmerz teilen. Doch mein eigener Schmerz stieß mich zurück. Ich konnte niemanden mehr hören. Ich lag still und nahm nichts wahr als meinen eigenen Schmerz, der wie ein riesiges Herz pochte, hielt den Atem an und betete zu Gott, an den ich nicht glaubte: »Laß mich sterben oder ohnmächtig werden. Laß mich sterben oder ohnmächtig werden.« Und dann, glaube ich, verlor ich tatsächlich das Bewußtsein, und alle Sinneseindrücke erloschen, bis ich schließlich träumte, meine Augenlider seien zusammengefroren, und irgend jemand setze einen Meißel an, um sie auseinanderzusprengen; ich wollte ihn warnen, meine Augäpfel nicht zu beschädigen, konnte aber nicht sprechen, und der Meißel drang durch, und eine

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