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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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ich es mir nicht als Menschen vorstellen – es war, als näherte sich ein Untier seiner Beute, geräuschlos, zielsicher und mit der unerbittlichen Grausamkeit eines Geschöpfs aus einer anderen Welt.
    Die Leiter zitterte und bebte, und ich bildete mir ein, ich sähe Augen zu uns heraufleuchten. Plötzlich konnte ich es nicht länger ertragen und sprang in die Tiefe. Unten war nichts weiter als schwammiger Boden, der gleich einer Hand meinen linken Knöchel packte und ihn verdrehte. Ich konnte Pyle die Leiter herunterkommen hören; mir wurde klar, daß ich ein verängstigter Narr gewesen war, der sein eigenes Zittern nicht erkannt hatte. Und ich hatte geglaubt, ich sei hartgesotten und phantasielos, kurz, all das, was ein wahrheitsliebender Beobachter und Reporter sein sollte. Ich raffte mich auf und brach vor Schmerz beinahe wieder zusammen. Den einen Fuß nachschleppend, bewegte ich mich auf das Feld zu; hinter mir hörte ich Pyle nachkommen. Dann schlug eine Panzerabwehrgranate im Turm ein, und ich lag wieder da, das Gesicht nach unten.

4
     
    »Sind Sie verletzt?« fragte Pyle.
    »Etwas hat mich am Bein erwischt. Nichts Ernstes.«
    »Los, gehen wir!« drängte mich Pyle. Ich konnte ihn eben noch ausnehmen, weil er mit einem feinen, weißen Staub bedeckt zu sein schien. Dann verschwand er plötzlich, wie ein Film von der Leinwand, wenn die Lampen des Projektionsgeräts versagen: Nur der Ton lief weiter. Ich stützte mich vorsichtig auf das gesunde Knie und versuchte aufzustehen, ohne den verletzten linken Knöchel zu belasten; dann fiel ich von neuem hin, und der Schmerz benahm mir den Atem. Das war nicht der Knöchel: Etwas war mit meinem linken Bein geschehen. Sorgen konnte ich mir nicht machen – der Schmerz ließ diesen Gedanken gar nicht aufkommen. Ganz still lag ich auf dem Boden und hoffte, es würde aufhören wehzutun. Ich hielt sogar den Atem an, wie man das bei Zahnschmerzen tut. Ich dachte nicht an die Vietminh, die bald die Ruinen des Turms durchsuchen würden: Eine zweite Granate schlug dort ein – offenbar wollten sie ganz sicher sein, ehe sie sich näherten. Wieviel Geld das kostet, dachte ich, während der Schmerz nachließ, ein paar Menschen zu töten – Pferde zu schlachten kommt so viel billiger. Ich war wohl nicht bei klarem Bewußtsein, denn plötzlich bildete ich mir ein, ich wäre in den Hof eines Abdeckers geraten, der in der kleinen Stadt, aus der ich stamme, der Schrecken meiner Kindheit war. Immer meinten wir, das angstvolle Wiehern der Pferde und den Knall des Schußbolzens zu hören.
    Schon vor geraumer Weile hatte sich der Schmerz wieder eingestellt, während ich still dalag und den Atem anhielt – beides erschien mir gleich wichtig. Klar und deutlich überlegte ich, ob ich nicht in die Reisfelder kriechen sollte. Die Vietminh hatten vielleicht nicht die Zeit, einen weiten Umkreis abzusuchen, und vermutlich war jetzt bereits eine zweite Patrouille unterwegs, um mit der Besatzung des ersten Panzers Verbindung aufzunehmen. Aber ich fürchtete mich vor dem Schmerz mehr als vor den Partisanen, und ich blieb still liegen. Von Pyle war nichts zu hören: Er mußte die Felder erreicht haben. Dann hörte ich jemanden weinen. Die Laute kamen aus der Richtung des Turms, oder besser gesagt, der Turmruine. Es klang nicht wie das Weinen eines Mannes, sondern wie das eines Kindes, das sich vor der Finsternis fürchtet, aber nicht wagt zu schreien. Vermutlich kam es von einem der beiden Burschen – vielleicht war sein Gefährte getötet worden. Ich hoffte, die Vietminh würden ihm nicht die Kehle durchschneiden. Man sollte nicht mit Kindern Krieg führen, dachte ich, und ein kleiner, zusammengekauerter Leichnam in einem Graben fiel mir wieder ein. Ich schloß die Augen – auch dies half, den Schmerz zu unterdrücken – und wartete. Eine Stimme rief Worte, die ich nicht verstand. Beinahe war es jetzt, als könnte ich in der Dunkelheit und Einsamkeit und Schmerzlosigkeit Schlaf finden.
    Dann hörte ich Pyle flüstern. »Thomas. Thomas.« Er hatte das lautlose Anschleichen schnell gelernt; ich hatte ihn nicht zurückkommen hören.
    »Gehen Sie weg!« flüsterte ich zurück.
    Er fand mich schließlich und legte sich flach neben mich. »Warum sind Sie nicht gekommen? Sind Sie verletzt?«
    »Mein Bein – ich glaube, es ist gebrochen.«
    »Ein Schuß?«
    »Nein, nein. Ein Balken. Stein. Etwas vom Turm. Es blutet nicht.«
    »Sie müssen sich zusammenreißen!«
    »Gehen Sie weg, Pyle. Ich mag nicht,

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