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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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es tut zu weh.«
    »Welches Bein ist es?«
    »Das linke.«
    Er kroch um mich herum und legte sich meinen Arm über die Schulter. Ich wollte wimmern wie der Bursche im Turm, und dann wurde ich wütend; aber es war schwer, im Flüsterton wütend zu sein. »Hol’ Sie der Teufel, Pyle. Lassen Sie mich allein. Ich will hierbleiben.«
    »Das können Sie nicht.«
    Er zog mich halb auf seine Schulter hinauf, und der Schmerz wurde unerträglich. »Seien Sie doch kein blödsinniger Held! Ich will nicht weg.«
    »Sie müssen mithelfen«, sagte er, »sonst werden wir beide erwischt.«
    »Sie …«
    »Ruhig, sonst hört man Sie.« Ich weinte vor hilfloser Wut – man könnte kein stärkeres Wort dafür gebrauchen. Ich stützte mich auf ihn und ließ das linke Bein frei hängen – wir sahen wie unbeholfene Teilnehmer an einem Wettlauf auf drei Beinen aus, und wir wären verloren gewesen, wenn nicht im selben Augenblick, als wir aufbrachen, irgendwo weiter vorn, zwischen uns und dem nächsten Turm, ein Maschinengewehr in kurzen, raschen Stößen zu feuern begonnen hätte. Vielleicht war eine französische Patrouille im Vordringen, oder die Vietminh bemühten sich, ihr Soll von drei zerstörten Türmen pro Nacht zu erfüllen. Jedenfalls deckte der Lärm unsere langsame, schwerfällige Flucht.
    Ich weiß nicht, ob ich dauernd bei Bewußtsein war: Ich glaube, die letzten zwanzig Meter muß Pyle mein ganzes Gewicht allein geschleppt haben. »Jetzt Vorsicht!« sagte er. »Wir gehen hinein.« Ringsum raschelten die trockenen Reishalme, der Schlamm gluckste und stieg an. Das Wasser reichte uns bis an die Hüften, als Pyle haltmachte. Er keuchte, und als ihm kurz der Atem stockte, klang es wie das Quaken eines Ochsenfrosches.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
    »Konnte Sie doch nicht liegenlassen«, erwiderte er.
    Zunächst empfand ich Erleichterung: Wasser und Schlamm umschlossen mein Bein mit der zarten Festigkeit eines Verbands. Doch bald klapperten uns vor Kälte die Zähne. Ich fragte mich, ob Mitternacht schon vorbei war. Wenn die Vietminh uns nicht entdeckten, mußten wir sechs Stunden in dieser Lage ausharren.
    »Können Sie Ihr Gewicht ein wenig verlagern?« sagte Pyle. »Nur für einen Augenblick.« Und aufs neue befiel mich meine vernunftwidrige Erbitterung – der Schmerz war die einzige Entschuldigung dafür. Ich hatte nicht darum gebeten, gerettet zu werden oder meinen Tod so qualvoll hinauszuzögern. Sehnsüchtig dachte ich an mein Lager auf der festen, trockenen Erde. Ich stand wie ein Kranich auf einem Bein und versuchte, Pyle mein Gewicht abzunehmen, und sooft ich mich rührte, kitzelten und schnitten mich die knackenden Reisstengel.
    »Sie haben mir dort draußen das Leben gerettet«, sagte ich, und Pyle räusperte sich, um darauf die konventionelle Antwort zu geben, »nur damit ich hier sterben kann. Der trockene Boden wäre mir dazu lieber.«
    »Pst. Nicht sprechen«, sagte er wie zu einem Schwerkranken.
    »Wer zum Teufel hat Sie dazu aufgefordert, mir das Leben zu retten? Ich kam in den Osten, um getötet zu werden. Es sieht Ihrer verfluchten Unverschämtheit ähnlich …« Ich stolperte im Schlamm, und Pyle schlang sich sofort meinen Arm über die Schulter. »Nur immer mit der Ruhe«, sagte er.
    »Sie haben wohl Kriegsfilme angesehen. Wir sind doch nicht zwei Marineinfanteristen, und Orden können Sie sich auch keinen verdienen.«
    »Pst. Pst.« Schritte waren zu vernehmen, die sich dem Rand des Reisfelds näherten. Das Maschinengewehr stellte das Feuer ein und man hörte nichts außer dem Geräusch der Tritte und dem leisen Rascheln im Reis, das durch unser Atmen entstand. Dann hielten die Schritte an: Sie schienen nur ein paar Meter entfernt zu sein. Ich spürte, wie mich Pyles Hand an meiner gesunden Seite langsam nach unten drückte. Ganz sachte sanken wir zusammen in den Schlamm, um die Reishalme möglichst wenig in Bewegung zu versetzen. Wenn ich ein Knie auf den Boden stützte und den Kopf weit nach hinten reckte, konnte ich den Mund gerade noch über Wasser halten. Im linken Bein stellten sich die Schmerzen wieder ein, und ich sagte mir: »Wenn ich hier ohnmächtig werde, ertrinke ich.« Ich hatte den Gedanken zu ertrinken immer gehaßt und gefürchtet. Warum kann man sich seinen Tod nicht aussuchen? Es herrschte jetzt lautlose Stille: Keine sechs Meter entfernt, warteten sie auf ein Rascheln, ein Husten, ein Niesen – O Gott, dachte ich, ich muß niesen. – Wenn Pyle mich bloß allein gelassen hätte,

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