Der stille Herr Genardy
Händen? Hedwig schaute sich im Zimmer um, schaute auch zur Decke hinauf.
»Ist die Wohnung oben genauso groß wie deine?« Ich nickte nur.
»Und wieviel willst du dafür haben?« fragte Hedwig. Bevor ich ihr antworten konnte, nahm Wolfgang Beer ihre Hand und tätschelte sie wieder.
»Es geht nicht«, sagte er leise und seufzte vernehmlich.
»Du mußt noch ein bißchen Geduld haben. Du findest schon noch eine andere Wohnung. Die Wohnung hier ist bereits wieder vermietet.« Er schaute mich an.
»An einen Mann«, sagte er,»Genardy, so heißt er doch, nicht wahr? Er ist wohl im Moment nicht da?«
»Nein, er ist nach Mittag zu seinem Sohn gefahren.« Mit Mara, du mußt ihm sagen, daß er Mara bei sich hat. Ich wollte es auch endlich sagen. Aber bevor ich dazu kam, sprach Wolfgang Beer schon weiter.
»Ach, zu seinem Sohn«, meinte er,»wo lebt denn sein Sohn?«
»In Köln, nehme ich an, hat er jedenfalls gesagt.«
»Hat er jedenfalls gesagt«, wiederholte Wolfgang Beer und lächelte dabei. Es kam mir merkwürdig vor. Fast ein bißchen allwissend.
»Kennen Sie Herrn Genardy? Ist etwas nicht in Ordnung?« Er benahm sich seltsam, fand ich. Die Art, wie er fragte, die Betonung und das Lächeln. Er kannte ihn ganz bestimmt. Aber er schüttelte den Kopf.
»Nein, ich kenne ihn nicht. Was soll denn nicht in Ordnung sein?«
»Er steht nicht im Telefonbuch.« Wolfgang Beer lächelte.
»Es hat halt nicht jeder ein Telefon. Sie doch auch nicht. Warum eigentlich nicht?«
»Ich konnte mir bisher keins leisten.«
»Na, sehen Sie«, meinte er,»das ist doch ein Grund. Wahrscheinlich hat Herr Genardy den gleichen.« Und anschließend klopfte er auf Hedwigs Hand und erhob sich dabei.
»Ich glaube, wir müssen wieder.« Kurz nachdem sie weg waren, kam Nicole heim. Wir aßen, unterhielten uns dabei über den kleinen Vetter, von dem Anke vor Wochen gesagt hatte:
»Ein wüster Bengel, das kannst du mir glauben. Der tritt und boxt vierundzwanzig Stunden am Tag. Mit dem werde ich wohl nicht so viel Ruhe haben wie mit Mara.« Es wunderte mich, daß ich so ruhig mit Nicole reden konnte. Ich war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Was sollte ich Anke sagen, wenn Mara etwas zugestoßen war? Da war nur noch ein kleiner Rest Vernunft, der flüsternd versuchte sich durchzusetzen. Er kann sich doch gar nicht an Mara vergreifen, denk nach, Sigrid. Du weißt, daß er sie bei sich hat. Mutter weiß es, Günther weiß es. Selbst wenn er so veranlagt wäre, das Risiko wäre doch viel zu groß für ihn. Aber er stand nicht im Telefonbuch. Ich kannte seine Adresse nicht, hatte mir keinen Ausweis zeigen lassen. Vielleicht hatte er uns einen falschen Namen genannt. Und wenn er nicht zurückkam…
Als Nicole im Bett lag, stellte ich mich ans Fenster. Da stand ich bis kurz vor neun. Ich konnte nicht mehr denken, mich nicht mehr rühren. Der kleine Rest Vernunft kämpfte auf verlorenem Posten. Such den Schlüssel, Sigrid, nimm den Schrank auseinander, wenn es nicht anders geht, aber tu endlich etwas! Such die Schlüssel, den von Nicoles Zimmer und den von oben. Schließ Nicole ein und dann geh hinauf. Das Autokennzeichen weißt du immerhin, vielleicht findest du da oben noch mehr. Und dann ruf die Polizei. Aber die Polizei hatte den Mörder doch gefaßt. Er hatte nur noch nicht gestanden. Kurz vor neun fuhr draußen das alte grüne Auto vorbei. Herr Genardy fuhr es gleich in die Garage. Dann kam er zur Haustür. Mara trug er auf dem Arm, mit dem Kopf gegen seine Schulter gelehnt. Ich stand plötzlich in der Diele, wußte gar nicht, wie ich dahin gekommen war, und öffnete ihm. Er lächelte mich an, irgendwie erleichtert, herzlich, fröhlich, ganz gelöst und zufrieden.
»Da sind wir wieder«, begrüßte er mich heiter. Entschuldigte sich gleich anschließend:
»Es ist leider ein wenig später geworden, als ich beabsichtigt hatte. Die Kinder führten sich auf, als hätten sie mich seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie wollten nicht ins Bett, solange ich da war. Da gab es sogar Tränen. Meine Schwiegertochter bat mich, zu bleiben, bis sie eingeschlafen waren.« Er seufzte vernehmlich, lächelte immer noch.
»Das war ein anstrengender Nachmittag für die Kleine. Jetzt bin ich nur froh, daß Sie daheim sind. Ich bin kurz bei Ihrer Mutter vorbeigefahren, da öffnete mir niemand.« Mara war in eine karierte Decke gewickelt. Ich nahm sie ihm ab, trug sie ins Wohnzimmer, legte sie dort auf die Couch. Herr Genardy folgte mir.
»Zuletzt war sie doch
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