Der stille Herr Genardy
kann stundenlang zuhören.« Das konnte Günther auch. Und anschließend die Stirn in Falten legen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß Wolfgang Beer zum Telefonhörer greifen würde, nachdem er mir zugehört hatte. Zuhören war eine Sache, Fragen stellen und die Bekannte einer Schwester erwähnen, die manchmal seltsame Anwandlungen hatte. Genauso hatte er es doch ausgedrückt. Sich selbst lächerlich machen war eine ganz andere Sache. Wolfgang Beer wirkte müde und abgespannt, als er hinter Hedwig ins Zimmer kam. Im Flur hatte ich sie kurz miteinander sprechen hören.
»Wie fühlst du dich?«, hatte er sie gefragt. Und Hedwig hatte ihm geantwortet:
»Mir geht es gut, aber Sigrid ist nicht in Ordnung. Da ist was, das läßt ihr keine Ruhe.« Wolfgang Beer setzte sich in einen Sessel, lächelte mich an. Hedwig ging in die Küche und machte ihm auch eine Tasse Kaffee. Ehe sie damit zurückkam, erkundigte sich Wolfgang Beer bei mir:
»Wieder irgendwelche Zustände?« Er fragte es ungefähr so wie ein Arzt, der wissen will, ob man Beschwerden hat. Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, ihm von Mara zu erzählen. So ein stilles Kind, hatte Herr Genardy gesagt. Du bist ja ein süßes kleines Mädchen. Jeder Polizist würde sagen:
»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, die Sie gegen Ihren Mieter vorbringen.« Jeder Polizist würde fragen:
»Haben Sie Beweise?«
»Ich komme schon klar damit«, erwiderte ich. Ich blieb nicht mehr lange bei Hedwig. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Wolfgang Beer war bereit, mich heimzufahren. Ich wollte das nicht. Nicht wieder gefragt werden und nicht ausgelacht bei den Antworten. Warum fragt er mich nach meinen Zuständen, wenn sie den Richtigen haben? Sie haben doch Beweise gegen den Studenten. Ein Bleistift mit dem Abdruck eines abgebrochenen Zahns. Vielleicht hat Herr Genardy wirklich eine Geheimnummer. Vielleicht ist das alles nur so, weil mich etwas an ihm ständig an Franz erinnert. Da war eine höhnische Stimme in meinem Kopf:
»Und was mag das wohl sein?« Hedwig wollte mitkommen. Ich war ihr dankbar dafür. Während der Fahrt sprachen wir kaum. Nur einmal fragte Hedwig:
»Wann kommt deine Kleine denn heim?« Ich hatte Nicole aufgetragen, zwischen sieben und halb acht heimzukommen, sich notfalls ein Wurstbrot zu machen, sich die Zähne zu putzen und so weiter. Bis halb neun dürfe sie dann auf mich warten, hatte ich ihr gesagt. Sie war noch nicht daheim, als wir ankamen. Hedwig und Wolfgang Beer gingen mit ins Haus. Anstandshalber bot ich Kaffee an, obwohl es mir lieber gewesen wäre, sie wären gleich wieder gefahren. Ich hatte immer noch Angst, daß er erneut beginnen würde, mich mit Fragen zu löchern. Aber dann war ich doch auch ein bißchen froh, daß sie noch bei mir blieben. Während sie im Wohnzimmer Platz nahmen, setzte ich die Kaffeemaschine in Gang und lief dann rasch die Treppe hinauf. Das Garagentor war geschlossen gewesen. Möglicherweise war er ja bereits wieder daheim. Dachte ich tatsächlich daheim? Ja, ich dachte es wohl. Fakten, mit denen man sich abfinden mußte. Ich klopfte mehrfach, keine Antwort. Herr Genardy war noch nicht zurück. Und Mara… Ganz schleppend kam eine Unterhaltung in Gang, als ich dann wieder im Wohnzimmer erschien. Ich füllte drei Tassen. Hedwig lobte den Kaffee. Da sei ja doch ein großer Unterschied und daß sie sich vielleicht doch endlich eine Maschine kaufen solle, damit sie einen vernünftigen Kaffee anbieten könne, falls mal jemand käme. Dabei schaute sie Wolfgang Beer an. Er klopfte ihr leicht auf den Handrücken und sagte:
»Mach das, ich bin ein großer Freund von vernünftigem Kaffee. Und ich komme bestimmt noch öfter vorbei.« Er mochte sie wirklich. Ist eigentlich komisch, dachte ich, wie manche Leute zusammenfinden. Ein Polizist und die Mutter eines Mordopfers. Unter normalen Umständen hätten sie sich nie getroffen. Und jetzt kannten sie sich. Seit gut zwei Wochen ungefähr. Ich wußte, daß sie zusammenbleiben würden. Ich wußte es eben, als ich sie da nebeneinander auf meiner Couch sitzen sah. Es war nicht so, daß ich irgend etwas vor mir sah, einen Trauring oder das Standesamt, nein, es war einfach die Gewißheit. Ich dachte an Mara, und da fühlte ich keine Gewißheit, nur die Kopfhaut zog sich zusammen und die Schulterblätter. Mir war kalt, und ich konnte nicht mehr richtig durchatmen. Mißbraucht und erwürgt. Gibt es da einen Unterschied, ob man von der Angst gewürgt wird oder von zwei
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