Der stille Herr Genardy
Vorwürfen.
»Ich dachte, es interessiert dich vielleicht!« Zumindest die eine spitze Bemerkung konnte Mutter sich nicht verkneifen. Anke hatte einen Sohn geboren. Nicht auf normalem Wege. Die Ärzte hatten sich zu einem Kaiserschnitt entschließen müssen.
»Norbert will natürlich noch hierbleiben«, erklärte Mutter.
»Und ich bleibe selbstverständlich auch hier, bis Anke wieder ansprechbar ist. Bisher ist sie noch nicht auf die Station gebracht worden. Es kann spät werden. Wann gedenkst du denn heimzufahren?« Mutter hatte mit Herrn Genardy vereinbart, daß er Mara am Abend gleich zu ihr bringen könne.
»Ich konnte ja nicht ahnen, daß es so spät werden würde«, sagte Mutter.
»Es wäre nett, wenn du so gegen sieben oder acht daheim sein könntest. Vielleicht sagst du Herrn Genardy kurz Bescheid. Da kann er sich den unnötigen Weg zu mir sparen.«
»Hast du seine Nummer?« Nein, die hatte Mutter nicht. Sie hatte auf der Fahrt zur Klinik anderes im Kopf gehabt, als Herrn Genardy nach seiner Telefonnummer zu fragen. Sie hatte auch kein Kleingeld bei sich, um den Münzfernsprecher in der Klinik zu benutzen. Außerdem gab es weit und breit kein brauchbares Telefonbuch. Die Stationsschwester war so nett gewesen, sie einmal vom Telefon im Schwesternzimmer aus telefonieren zu lassen. Aber man sollte die Freundlichkeit einer Stationsschwester nicht über Gebühr strapazieren, indem man nun noch etliche Gespräche anhing. Wahrscheinlich hatte Mutter nur keine Lust, ins Erdgeschoß hinunterzufahren. Da hätte sie am Ende noch verpaßt, wenn Anke aufs Zimmer gebracht wurde. Aber vermutlich gab es noch einen Grund, mir die Benachrichtigung von Herrn Genardy zu überlassen. Aus Mutters letztem Satz schloß ich später darauf, daß ihr sehr wohl ein brauchbares Telefonbuch zur Verfügung stand. Daß sie damit allerdings die gleichen Erfahrungen gemacht hatte, die ich dann machen mußte. Mutter verabschiedete sich mit dem Hinweis:
»Du rufst am besten gleich die Auskunft an.« Aber wozu, wenn es erst einmal anders ging.
»Hast du ein Telefonbuch?« fragte ich Hedwig. Da sah ich das Buch auch schon auf dem Regal unter dem Telefon liegen. Ich nahm beides mit zurück ins Wohnzimmer, die Schnur war lang genug.
»Ich darf doch mal kurz telefonieren?«
»Natürlich«, murmelte Hedwig. Sie fragte nicht einmal, wen ich anrufen wollte, nahm das zweite Heft ihrer Tochter in die Hand, blätterte darin. Ich blätterte im Telefonbuch. G. Ga. Ge. Gen. Gena. Genand. Kein Genardy! Und Mutters Stimme spukte mir durch den Kopf:
»Du rufst am besten gleich die Auskunft an!« Ich wollte die Auskunft nicht anrufen. Ich wollte mir nicht anhören müssen, daß es einen Teilnehmer dieses Namens nicht gab. Ja, darauf verstehst du dich, Sigrid, die unangenehmen Wahrheiten so lange als eben möglich vor dir herzuschieben. Das machst du hervorragend. Und wenn sie sich dann nicht mehr länger leugnen lassen, drückst du einfach beide Augen fest zu. Nur nicht hinsehen.
»Wen suchst du denn?« fragte Hedwig. Ich wollte es ihr erklären, aber so einfach war das nicht. Mein Herz war verrutscht, es klopfte jetzt im Hals, und meine Füße waren mit Eisstückchen gefüllt. Kein Genardy, kein Josef und auch kein anderer. Und er hatte Mara bei sich. Bevor die Panik über mir zusammenschlagen konnte, nahm ich das Telefon auf den Schoß. Die Durchwahlnummer, unter der ich Günther in der Redaktion erreichen konnte, wußte ich auswendig. Gleich darauf hatte ich seine Stimme im Ohr.
»Sigrid«, sagte ich.
»Du mußt mir helfen. Er steht nicht im Telefonbuch.« Günther war nur einen Moment lang überrascht. Er begriff anscheinend sofort.
»Wen meinst du, Genardy?«
»Ja.« Es war still. Es war so fürchterlich still, wie damals, als Großmutters Uhr stehenblieb. Günther schwieg. Hedwig schaute mir ins Gesicht, ein klein wenig Leben in den Augen, ein Hauch von Interesse.
»Weiß ich«, erklärte Günther endlich,»ist mir auch schon aufgefallen.« Und das nicht erst gestern, sondern am vergangenen Montag schon. Gleich nach dem Sonntagnachmittag ohne Fotos von Enkelkindern. Es war ja auch eine Kleinigkeit, im Telefonbuch nachzuschlagen und kurz einmal nach dem Starfotografen zu suchen. Wenn man ohnehin zu leichtem Mißtrauen neigt, war es sogar eine Notwendigkeit. Und wieder war es so still. Das Schulheft von Nadine lag aufgeschlagen auf Hedwigs Beinen. Eine vollgeschriebene Seite, ziemlich krakelig die Schrift und überall die roten Striche
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