Der stille Herr Genardy
Meine Tochter hat Ihnen vielleicht erzählt, daß wir finanziell nicht so gut gestellt sind. Also mit anderen Worten, die Miete ist immer mein Haushaltsgeld, und letzte Woche konnte ich keines mitnehmen. Ich hatte noch ein bißchen Geld, es war nicht so schlimm.« Zwischendurch mußte ich auch einmal Luft holen. Herr Genardy nutzte die Gelegenheit zu einer erstaunten Äußerung.
»Das verstehe ich nicht. Das Geld hätte doch auf Ihrem Konto sein müssen. Ich habe es rechtzeitig überwiesen. Ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern. Geben Sie mir zur Sicherheit noch einmal Ihre Kontonummer und die Bankleitzahl. Es kann sich da nur um ein Versehen handeln. Vielleicht ist das Geld falsch überwiesen worden. Aber das läßt sich ja nachprüfen.« Ich nickte.
»Haben Sie etwas zu schreiben?« Ich rechnete fest damit, daß er ins Wohnzimmer oder in die Küche gehen würde. Und ich wollte ihm nachgehen. Mich einmal umsehen, wenn ich schon nicht mehr tun konnte. Vielleicht einen Anhaltspunkt finden, einen Ansatz, der es mir erlaubte, ihm ein bißchen von dem unter die Nase zu halten, was ich gestern und heute erfahren hatte, ohne Günther dabei zu erwähnen. Er sollte erst gar nicht auf den Gedanken kommen, ich sei auf die Unterstützung eines Mannes angewiesen, der nur am Wochenende ein bißchen Zeit für mich hatte. Aber er ging nicht in die Küche oder ins Wohnzimmer. Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der einen Hosentasche, suchte in der anderen Tasche herum und brachte die Hand mit einem Bleistiftstummel wieder zum Vorschein. Und ich hatte meine Kontonummer nicht im Kopf. Mir fiel im Moment auch nichts Besseres ein als Nicoles Geburtsdatum. Das nannte ich ihm, setzte einfach die Elf davor und kam so auf zehn Zahlen, die durchaus eine Kontonummer hätten sein können. Die Bankleitzahl, dafür faßte ich mir kurz an die Stirn, stotterte ein wenig herum.
»Es tut mir leid, aber ich komme jetzt nicht darauf.«
»Es macht ja nichts«, meinte Herr Genardy,»ich kann nachsehen lassen. Es war doch die Kreissparkasse.«
»Ja.« Als ich ihm dann doch noch ins Gesicht schaute, lächelte er wieder oder immer noch.
»War sonst noch etwas, Frau Pelzer?« Noch eine ganze Menge.
»Eigentlich nicht«, sagte ich, senkte den Kopf wieder.
»Es ist nur so: Wenn das Geld morgen auch noch nicht gutgeschrieben ist, wissen Sie, ich…« Noch ein bißchen gestottert, es wirkte vermutlich glaubhaft.
»Ich brauche morgen ein bißchen Geld. Und da wollte ich fragen, ob Sie mir vielleicht zweihundert Mark leihen können? Wenn das Geld auf dem Konto ist, gebe ich es Ihnen natürlich sofort zurück. Aber wenn es nicht da ist, ich muß morgen ein paar Einkäufe machen, und meine Mutter möchte ich nicht darum bitten. Und meine Schwester ist ja zur Zeit nicht da. Und…« Und zweihundert Mark hast du garantiert nicht in deiner Hosentasche. Hundert schon eher, aber damit lasse ich mich nicht abspeisen. Du wirst ins Wohnzimmer gehen, und ich komme dir nach. Und dann werde ich irgendeine Bemerkung über den alten Krempel machen, von dem Frau Hofmeister gesprochen hat. Ich hatte ihn aus der Fassung gebracht. Sein Lächeln war verschwunden, die Miene unbewegt.
»Ich weiß gar nicht, ob ich so viel Bargeld hier habe«, sagte er.
»Einen Moment, ich sehe nach.« Ich stellte einen Fuß auf die letzte Treppenstufe, schob ihn ein bißchen vor. Es wäre sehr unhöflich, mir die Tür vor der Nase zuzumachen, Herr Genardy. Das wissen Sie, nicht wahr? Da könnte ich doch stutzig werden, wenn Sie das tun. Das tat er auch nicht, er drückte die Tür nur ein bißchen mehr zu. Ich drückte sie wieder auf. In der Diele brannte eine schwache Glühbirne, eine nackte Birne in der Fassung. Er war ins Wohnzimmer gegangen und hatte dort die Tür hinter sich geschlossen. An den Wänden der Diele hingen noch die Tapeten von Frau Humperts. Ein Stuhl stand nicht mehr da. Aber rechts neben der Tür waren mehrere kleine Haken in die Wand geschraubt. An einem davon hing sein Schlüsselbund, und gleich daneben hingen zwei einzelne Schlüssel. Der mit dem runden Kopf für die Haustür, der mit dem eckigen Kopf für die, vor der ich gerade stand. Ihn vom Haken zu nehmen war nicht einmal eine Sache der Überlegung. Dabei konnte ich auch einen Blick in die Küche werfen. Zu sehen gab es überhaupt nichts, nur Fußboden und die offene Tür, die den Blick auf die Wand verwehrte. Herr Genardy kam zurück, ein paar Geldscheine in den Fingern, eine Miene
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