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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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ein Keuchen. Ich wußte genau, daß Franz hinter mir war. Ein anderer Franz als der, den ich gekannt hatte. Er hatte Rasierklingen in seiner Tasche. Er rief:
    »Bleib doch stehen, ich will dir doch nichts tun. Ich will nur alles schön glatt machen. Ich mag es schön glatt, so glatt wie eine geflieste Wand.« Ich rannte weiter, und mitten im Laufen wurde mir plötzlich bewußt, daß ich das Kind irgendwo hinter mir zurückgelassen hatte. Dann hörte ich den Mann rufen:
    »Wo ist denn mein kleines Mädchen?« Und dann hörte ich das Kind schreien. An der Stelle erwachte ich jedesmal. Und jedesmal wußte ich, es war ein gewöhnlicher Alptraum. Nur die Uhr zählte, wenn der Braune sie irgendwohin trug, wenn er sein Hämmerchen hob und die Stundenstriche abschlug. In der vergangenen Nacht hat er es wieder getan. In drei Tagen wird er seinen Bruder zu mir schicken, den Mann mit der Sense. Ich weiß es ganz sicher.Es ging alles besser, als der Mann erwartet hatte. Beim ersten Besuch blieb das Kind ungefähr eine halbe Stunde bei ihm; es trank eine Limonade, aß ein paar Kekse dazu, bewunderte die Krawattennadel und die Manschettenknöpfe, die er aus besseren Zeiten herübergerettet hatte und gerne offen auf der Anrichte liegen ließ. Es fragte ihn, ob er reich sei, weil er doch richtiges Gold besitze. Dann erzählte es ihm von der Mutter. Sie war in einem der großen Kaufhäuser beschäftigt. Und sie sagte immer, daß sie nicht so viel verdiene, um es ihm hinten und vorne beistecken zu können. Es erzählte von den Kindern in seiner Klasse, von denen viele schon Armbanduhren trugen, teure Jacken und Schuhe, und daß es auch gerne solch schicke Sachen haben würde. Es erzählte von dem Umzug in die Stadt; sie waren erst im November hergekommen, und anfangs hatte ihm die Stadt gar nicht gefallen. Es erzählte auch von dem jungen Mann aus dem Dachgeschoß, als er danach fragte. Aber es wiederholte nur, was es schon einmal gesagt hatte, und schloß in fast trotziger Weise, daß es zu dem nicht mehr hingehe. Und als es sich verabschiedete, fragte es, ob es denn wiederkommen dürfe.
    »Wenn es nur nach mir ginge«, erwiderte der Mann ,»ich habe gegen ein bißchen Gesellschaft nichts einzuwenden. Aber ich muß auch an die Nachbarn denken. Was, meinst du wohl, würden sie von mir denken, wenn sie sehen, daß bei mir ein Kind ein und aus geht? Über den jungen Mann da oben zerreißen sie sich auch die Mäuler.«
    »Und wenn ich ganz vorsichtig bin?« fragte das Kind. Er gab sich erst noch unentschlossen, machte jedoch zögernd ein paar Vorschläge, die das Kind begeistert aufgriff. Sie vereinbarten, daß es niemals auf seine Klingel drücken dürfe. Wenn die anschlug, war das in der Nebenwohnung zu hören. Es mußte also auf der Straße warten, aber nicht schon, wenn er von der Arbeit kam. Wenn es so zwischen halb sechs und sechs vor der Tierhandlung erschien, war das günstiger. Er würde dann das Fenster öffnen, sich vergewissern, ob es da war, und es ins Haus lassen. Es schien ganz so, als sei das Kind fasziniert von dieser Heimlichtuerei; mißtrauisch wurde es auf gar keinen Fall. Es kicherte leise, als er es zur Tür brachte, und versprach, auf Strümpfen die Treppen hinabzuschleichen. Der Mann war zufrieden, saß den ganzen Abend da und malte sich die Zukunft in rosigen Farben aus. Nachdem es erst einmal bei ihm gewesen war, kam das Mädchen häufig zu ihm in die Wohnung. Und niemand im Haus bemerkte etwas davon, auch die Nachbarin nicht. Davon überzeugte er sich, indem er sich regelmäßig auf längere Gespräche mit ihr einließ, wenn er von der Arbeit kam. Das war immer so gegen fünf. Und wenn das Kind kam, dann mindestens eine halbe Stunde später. Bei einem der nächsten Besuche brachte das Kind ihm ein Schulheft mit. Es machte einen sehr zerknirschten und ratlosen Eindruck. Eine Unterschrift der Mutter sollte es am nächsten Tag in die Schule mitbringen. Aber es wagte nicht, der Mutter das Heft zu zeigen.
    »Die brüllt immer gleich los«, flüsterte es. Es sprach immer so leise, wenn es bei ihm war, flüsterte oder wisperte nur.
    »Sie sagt, wenn ich mir in der Schule nicht ein bißchen mehr Mühe gebe und immer nur in der Gegend herumstreune, dann geht sie zum Jugendamt.« Ihm war klar, was das Kind von ihm erwartete, und er zögerte auch nicht lange. Ganz am Anfang im Heft stand einmal der Name der Mutter unter einer Notiz des Lehrers. Natürlich ging er davon aus, daß die Mutter selbst ihren Namen

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