Der stille Herr Genardy
Sonntagmorgen mit ihr ins Hallenbad zu gehen. Und während Nicole sich mit Tauchübungen vergnügte, literweise Wasser schluckte und, allen meinen Ängsten zum Trotz, doch immer wieder an die Oberfläche zurückkam, stand ich mitten im Nichtschwimmerbecken. Mit einem Auge beim Bademeister, der im Notfall hätte eingreifen müssen, weil ich selbst mich auch nur mit knapper Not über Wasser halten konnte, mit dem anderen Auge bei der vom Wasser verzerrten Gestalt, die mir um die Beine herumpaddelte. Beim vierten oder fünften Besuch behauptete Nicole, sie könne jetzt schwimmen, und tauchte, ohne mein Einverständnis abzuwarten, unter dem Trennseil durch. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als die Tiefe unter dem Bauch zu vergessen und mit krampfhaft hochgehaltenem Kopf hinterherzuschwimmen. Möglichst in Griffnähe des Randes, schwamm ich direkt auf das kleine Sprungbrett zu. Den Blick auf Nicole gerichtet, die ein Stück vor mir prustend und hüpfend wie ein Frosch durchs Wasser zog, übersah ich den Mann auf dem Brett völlig. Und als der sprang, kam diese riesige Welle, schwappte mir über Mund und Nase, spritzte mir in die Augen. Meine Arme kamen augenblicklich aus dem Rhythmus, und der Rand war etwas mehr als zehn Zentimeter von meiner linken Hand entfernt. Ich sackte ab wie ein Stein, obwohl ich ziemlich wild um mich schlug. Zum Glück war jemand in meiner Nähe, der auf Anhieb erkannte, was los war. Ich habe mich fürchterlich geschämt, als Günther mich endlich wieder mit dem Kopf über Wasser gebracht hatte. Tauchen hatte ich nie gelernt. Und als Günther mich später fragte, warum ich denn der Welle nicht ausgewichen sei, konnte ich nur lachen. Ausweichen hatte ich auch nie gelernt, immer geradewegs auf die Katastrophen zu, immer mitten hinein in die riesigen Wellen oder die schwarzen Scheiben. Günther lud uns ein, mich zu einem Kaffee, Nicole zu einem Milchshake. Er kam auf Anhieb gut mit ihr zurecht, fand genau den richtigen Ton. Bis dahin hatte Nicole fast ausschließlich mit Frauen zu tun gehabt, der einzig wichtige Mann in ihrem Leben war Norbert gewesen. Norbert, der die Tür ihres Kleiderschrankes reparierte, der ihr die Schaukel im Garten herrichtete und zerbrochenes Spielzeug zusammenklebte. Norbert, der ihr nach solchen Hilfsaktionen kameradschaftlich zunickte und sagte:
»Jetzt funktioniert es wieder.« Und mehr erwartete sie von ihm auch nicht. Mit Günther war das vom ersten Tag an etwas anderes. Sie war ganz verrückt nach ihm, Günther hinten, Günther vorne, kommt Günther am Samstag? Und was Günther sagte, war das Amen in der Kirche. Auch wir verstanden uns, oberflächlich betrachtet, recht gut. Trotzdem war es ein paar Monate lang eine Beziehung, die ich nirgendwo richtig einordnen konnte. Wir trafen uns regelmäßig, unterhielten uns, er besuchte mich häufig. Nein, nicht mich, uns. Nur hielt er mich mehr auf Distanz als Nicole. Erst vor ein paar Wochen war daraus mehr geworden als eine Bekanntschaft. Aber ich wußte immer noch nicht, woran ich mit ihm war. Günther strahlte diese besondere Art von Ruhe aus, die ich seit Jahren vermißte. Dieses Stück Geborgenheit, das einen die dunklen Seiten des Lebens vergessen läßt. Und so war er gar nicht. Er war auch nur einer, der eine Fassade aufrechterhielt. Er sprach mit mir ausführlich über Gott und die Welt, über sich selbst nur das Allernötigste. Ich wußte von ihm, daß er geschieden war. Daß er sich jeden zweiten Samstag seine beiden Kinder holte und den Tag mit ihnen verbrachte. Der Junge war zehn und das Mädchen acht Jahre alt. Ich hatte mir manchmal vorgestellt, daß seine Tochter und Nicole sich anfreunden würden. Aber er war noch nie zusammen mit den Kindern bei mir gewesen. Von Beruf war er Redakteur beim Stadtanzeiger, arbeitete im Schichtdienst. Deshalb sahen wir uns in der Woche fast nie. Er kam samstags, meist erst am Abend, und sonntags kurz nach Mittag. Und jeden zweiten Sonntag mußte er am Nachmittag in die Redaktion. Es hatte deshalb schon mehr als einmal ein pikiertes Gesicht bei meiner Mutter gegeben. Sie kam jeden zweiten Sonntag zum Kaffee und meinte immer, Günther ginge nur, weil sie gerade gekommen sei. Man konnte es ihr hundertmal erklären, sie wollte es einfach nicht verstehen. Immer diese spitzen Bemerkungen.
»Ich finde es nicht sehr höflich von deinem Bekannten, Sigrid, daß er jedesmal aufbricht, wenn ic h zur Tür hereinkomme.« Dein Bekannter! Wenn sie wenigstens gesagt hätte, dein Freund.
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