Der stille Herr Genardy
wenn ich nicht demnächst selbst um eine Wohnung betteln wollte. Günther wußte das. Aber er schaute sich seelenruhig an, wie ich auch noch den zweiten Anruf entgegennahm. Diesmal eine Frau, der Stimme nach vielleicht in meinem Alter, dem Dialekt nach bestimmt nicht aus der näheren Umgebung. Sie erzählte mir eine sehr rührende Geschichte, saß mit Mann und drei Buben in einem Übergangsheim. Egal, was ich an Argumenten vorbrachte, es zog nicht. Und wenn die Wohnung nur ein Zimmer gehabt hätte, sie wollte sie unbedingt haben, für den Mann und die drei Buben. Und die Miete sei kein Problem, ihr Mann würde arbeiten und sie auch. Um Gottes willen, Franz. Ich bin den ganzen Tag nicht da. Drei Buben ohne Aufsicht, was werden sie mit dem Garten anstellen oder mit dem Treppenhaus? Ich konnte nicht nein sagen, ebensowenig, wie ich es bei dem jungen Mann gekonnt hatte. Zwei Besichtigungstermine für den Sonntagmorgen. Danach kam kein Anruf mehr. Wir saßen noch bis um zehn in dem leeren Zimmer. Nicole war längst wieder unten. Ich wischte noch das Bad auf, schrubbte die Wanne. Dann sagte Günther:
»Machen wir Feierabend, Sigrid. Wer jetzt noch anruft, ist unverschämt.« Ich wollte duschen.
»Jetzt mach mir keinen Strich durch die Rechnung«, sagte er.
»Ich sitze da die ganze Zeit mit viel zu enger Hose, und du willst in den Keller. Wenn ich noch fünf Minuten länger warten muß, habe ich vielleicht keine Lust mehr.« Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, um irgend etwas zu betteln. Er war immer so direkt. Und mir wurden die Knie weich, mir lief ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn er so etwas sagte. Und wenn er mich dabei ansah, auch so direkt. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, die Couch auszuklappen, drückte mich auf den Teppich, nahm nur eins der kleinen Kissen von der Couch und legte mir das unter den Kopf. Ich habe nur noch die Augen zugemacht und an gar nichts mehr gedacht, nicht an Franz oder daran, daß vor genau sechs Jahren um genau diese Zeit die Polizei gekommen war, nicht an Nicole, nicht einmal daran, daß morgen der dritte Tag war und daß es ein Unfall sein würde. Ich hätte es so gerne gehabt, wenn Günther bei mir geblieben wäre. Aber ich mochte ihn nicht darum bitten. Und er zog sich wieder an, setzte sich auf die Couch, rauchte noch eine Zigarette.
»Komm mal her«, sagte er dann und klopfte mit der Hand neben sich. Als ich dann neben ihm saß, meinte er:
»Du scheinst mit deinen Gedanken heute irgendwo im Himmel zu sein. Vielleicht bist du morgen wieder hier unten und siehst selbst, worauf du dich da einlassen willst. Ich will dir nicht reinreden. Aber schau dir die Leute morgen in Ruhe an und überstürze nichts. Du kannst besser auf eine Monatsmiete verzichten als die falschen Leute ins Haus nehmen. Du kriegst sie nämlich nicht mehr raus, wenn sich herausstellt, daß es die falschen sind.« Ich war mit meinen Gedanken nicht im Himmel. Und wenn er den Arm um mich gelegt hätte, wäre es bestimmt einfacher gewesen. Aber es ging auch so, auf einem Umweg über Hedwigs Tochter. Günther wußte schon davon, hatte den Bericht gelesen. Klar, es war schließlich seine Aufgabe, solche Berichte zu lesen, die kleinen Tippfehler zu suchen und auszumerzen. Er verstand, daß ich mir Sorgen um Nicole machte. Ganz normale Sorgen, natürliche Sorgen, traumatische Sorgen.
»Glaubst du an Träume?« fragte ich und versuchte, es ganz beiläufig klingen zu lassen. Er zuckte mit den Schultern. Ich sah, daß er grinste, ganz kurz nur, aber er hatte es getan.
»Kommt darauf an, welche«, meinte er. Da zählte ich der Reihe nach auf. Mein Vater, mein Großvater, all die alten Leute und das Mädchen aus meiner Schule. Und Franz, zuletzt Franz. Und jetzt wieder. Günther hörte mir zu, genauso, wie Franz damals nur zugehört hatte. Er sagte nicht, warum soll es das nicht geben. Er stellte nur fest:
»Und das macht dich ganz verrückt.« Und dabei zog er die Stirn in Falten. Ich hatte den Eindruck, daß er sehr wütend war. Auf all die Toten ging er gar nicht ein. Und daß ich jetzt wieder von der Uhr geträumt hatte, konnte seiner Meinung nach nur einen Grund haben: daß Frau Humperts ausgezogen war. Und die Tatsache, daß ich Frau Humperts als Ersatzmutter für mich selbst gesehen hatte. Er war plötzlich so ernst.
»Du hast dich vielleicht anfangs gefragt, was mit mir los ist. Warum ich zuerst reges Interesse anmelde und dann gleich wieder einen Rückzieher mache«, sagte er.
»Das war der
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