Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
Vom Netzwerk:
Kittel übergezogen, als der Abteilungsleiter in den Aufenthaltsraum kam. Ich war die letzte, die noch vor ihrem Spind stand. Und ich dachte schon, er würde mich deshalb anmeckern. Aber er hatte so einen todernsten Ausdruck auf dem Gesicht. Dann legte er auch noch die Hand an meinen Arm, als müsse er mir ganz im Vertrauen etwas mitteilen, das sonst niemanden etwas anging. Und dann sagte er, Hedwigs Tochter sei verschwunden, seit Donnerstag abend schon, vermutlich ausgerissen. Er hatte es beim Frühstück in der Tageszeitung gelesen, eine Suchmeldung der Polizei und ein Foto von Nadine Otten.
    »Hoffen wir«, sagte der Abteilungsleiter ,»daß die Kleine nur weggelaufen ist. Vielleicht wollte sie zu ihrer Großmutter, immerhin ist sie da aufgewachsen.« Der Blödmann! Als ob die Polizei nicht zuerst bei Hedwigs Schwiegereltern nachgefragt hätte. Da hätten sie nicht lange nach dem Kind suchen müssen. Es war ein Gefühl, als ob ich auf einem ganz dünnen Seil tanzte. Unter dem Seil war auf der einen Seite Nicole und auf der anderen Seite Hedwigs Tochter. Ausgerissen, aber nicht angekommen, das war eine Möglichkeit. Doch wenn es diesmal um sie ging, hatte der Braune mit seinem Hämmerchen aber sehr weit ausgeholt. Ich kannte Nadine Otten kaum, hatte das Mädchen in den letzten Jahren nur zwei- oder dreimal gesehen, als es mit Hedwigs Schwiegermutter in der Stadt war, um Einkäufe zu machen. Hedwigs Mann war auch dabeigewesen. Und Hedwig war kurz im Aufenthaltsraum verschwunden, um ein bißchen Geld aus ihrem Spind zu holen, damit er ihr nicht vor den Kunden und Kolleginnen eine Szene machte. Und währenddessen standen Hedwigs Schwiegermutter und das Mädchen vor der Käsetheke. Ein halbes Pfund frischen Holländer und die Peinlichkeit im Gesicht geschrieben. Das letzte Mal lag eine Ewigkeit zurück. Ich wollte es glauben, obwohl mir bei dem Gedanken ganz schlecht wurde. Schließlich wußte ich, wie sehr Hedwig an ihrer Tochter hing. Und wenn sie noch so oft geschimpft und geflucht hatte, das waren doch nur die Sorgen. Nur konnte ich es nicht glauben. Der Braune holte nicht so weit aus, der schlug nur dort zu, wo es mir weh tat. Ich konnte nur warten. Warten und verrückt werden dabei. Morgen, dachte ich immer wieder, morgen. Der dritte Tag. Glück im Unglück, ein Sonntag. Keinen Schritt würde ich von Nicoles Seite weichen, sie keine Sekunde lang aus den Augen lassen, von dem Moment an, wo sie morgens den ersten Fuß aus ihrem Bett setzte, bis zu dem Augenblick, in dem sie ihn abends wieder unter die Decke steckte. Als ich heimkam, hatte ich Kopfschmerzen und ein Stechen in der Brust, als ob mich dort jemand mit glühenden Nadeln bearbeitete. Nicole saß zusammen mit Denise vor dem Fernseher. Sie waren beide putzmunter und seit gut zwei Stunden im Haus, wie Nicole mir gleich erzählte. Ich hatte es verboten, aber spielte das denn eine Rolle? Sie hatten sich mit den Brüdern von Denise gestritten und ihre Ruhe haben wollen. Und da war eben diese Fernsehsendung. Frau Kolling hatte ihnen vermutlich nicht erlaubt, sich die Sendung anzusehen. Ich mußte immerzu an Hedwig denken. Wie oft hatte sie mir in den letzten Wochen erzählt, daß sie kaum noch Einfluß auf ihre Tochter habe. Nadine sei aufsässig geworden, gebe patzige Antworten oder gar keine. Ich hörte Hedwig sagen:
    »Wenn ich nicht genau wüßte, daß sie meine Schwiegermutter seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hat, würde ich denken, die hat sie gegen mich aufgehetzt.« Wenn wir den Sonntag erst überstanden hatten, mußte ich anders mit Nicole umgehen. Sie mußte lernen, mir zu gehorchen, auch wenn es ihr nicht in den Kram paßte. Und besser, ich fing gleich mit der ersten Lektion an. Zwei Stunden später kam Günther vorbei. Bis dahin sprach ich auf Nicole ein. Denise verabschiedete sich gleich, als ich begann.
    »Es kann nicht mehr so gehen wie bisher, Nicole. Du wirst in Zukunft tun, was ich dir sage.

Ich will nicht, daß du alleine hier im Haus bist. Wenn du nicht bei Denise bleiben kannst, dann gehst du eben zu Oma. Jetzt, wo Frau Humperts nicht mehr da ist…« Und immer so weiter. Sie ließ mich reden, ebensogut hätte ich es der Tür predigen können. Wenn sie mir nur nicht so überlegen gewesen wäre. Allein ihr Blick! Jetzt reg dich doch nicht so auf, du kleines Dummchen, es ist doch alles in bester Ordnung. Nichts war in Ordnung, der Braune lauerte schon. Günther spielte eine Partie Schach mit ihr, auch etwas, das ich nicht konnte.

Weitere Kostenlose Bücher