Der stille Herr Genardy
mit dem Kind zu Ende gegangen war. Vielleicht war es so, daß das Schicksal sich gnädig zeigte, sobald man die eigene Stärke bewies. Und stark fühlte er sich, seit dem Donnerstag fühlte er sich wieder sehr stark, vielleicht sogar jünger. Er war mit einemmal sehr zuversichtlich, vertraute ganz auf seine Wirkung, die Überzeugungskraft, die Liebenswürdigkeit, die er anderen entgegenbrachte, selbst dann, wenn sie ihm absolut zuwider waren. Er legte sich schon einmal zurecht, was er sagen wollte. Ging davon aus, daß die Vermieter bereits älter waren, ein Ehepaar vermutlich, die Kinder aus dem Haus. Aber es war ganz anders. Eine junge Frau öffnete ihm. Der Name stimmte nicht mit dem Namen im Telefonbuch überein. Doch als er später in der leeren Wohnung stand und das Telefon dort auf dem Boden stehen sah, begriff er. Die junge Frau war nicht allein, vielleicht war das sein Glück. Sie hätte ihn kaum ins Haus gelassen, das spürte er sofort. Die ältere dagegen war zugänglicher, von einer leutseligen Aufdringlichkeit, dabei naiv, dumm und gutgläubig. Mit Menschen kannte er sich aus, schaffte es meist, sie innerhalb von Sekunden in eine bestimmte Kategorie einzuordnen, und wußte dann genau, wie er mit ihnen umgehen mußte. Sein ursprünglicher Beruf hatte ihn das in langen Jahren gelehrt. Zwei Frauen, grundverschieden in ihrem Wesen. Mutter und Tochter, er suchte nach Gemeinsamkeiten und fand keine. Zwei Frauen und ein Kind. So klein noch, so rührend, so reizend. Er saß den Frauen gegenüber und konnte die Augen nicht abwenden. Er ging davon aus, daß das Kind ins Haus gehörte, und stellte sich vor, daß es hier für ihn so werden könnte, wie es früher mit seiner Tochter gewesen war. Dabei hatte er Mühe, die freudige Erregung im Zaum zu halten. Als er erfahren mußte, daß er sich irrte, bohrte die Enttäuschung derart in seinem Innern, daß er minutenlang gar nicht verstand, worüber die ältere Frau sprach. Dann konzentrierte er sich wieder, dachte bei sich, daß die Ältere wohl häufiger auf einen Besuch ins Haus kam und daß sie möglicherweise jedesmal das Kind mitbrachte. Daß sich vielleicht eine Gelegenheit ergab, ein wenig mit der Kleinen zu spielen. Wenn er es nur schaffte, die Ältere für sich einzunehmen. Aber da war er zuversichtlich. Mit der Jüngeren tat er sich schwerer. Sie sprach kaum, gab ihm so auch keine Gelegenheit, sich ein Urteil zu bilden. Und es war etwas mit ihren Augen, das ihm gar nicht gefiel. Schon als er vor der Tür stand, war ihm ihr Blick aufgefallen. Ein weiter Blick, der sich auf etwas zu konzentrieren schien, das jenseits von Begreifen lag. Für einen Moment war ihm so gewesen, als könne sie tief in ihn hineinsehen und dort auf Dinge stoßen, die niemand erfahren sollte. Aber dann hatte ihr Blick sich irgendwo hinter ihm verloren. Und er hatte fast aufgeatmet. Jetzt schalt er sich dafür einen Narren. Es war nur die Nervosität, die Anspannung der letzten Tage. Er mußte die Gedanken beisammen halten und konnte es sich nicht leisten, es der jungen Frau gleich zu tun. Mehrfach bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie ihre Hände sich im Schoß verschränkten. Die Finger waren in ständiger Bewegung. Sie saß da wie ein ängstliches Tier auf dem Sprung. Er konnte sie nicht einordnen und versuchte vorerst nur, sie zu ignorieren. Die Ältere war wichtiger. Von der hing es ab, das wußte er schon nach den ersten Minuten. Und er erzählte seine Geschichte, erzählte sie genauso, wie die Ältere sie hören wollte. In groben Zügen glich sie der Version, die er jahrelang seinen Nachbarn geboten hatte. Sie war nur leicht abgewandelt. Warum er sie überhaupt abwandelte, wußte er nicht genau, es gefiel ihm einfach. Keine Tochter diesmal, ein Sohn mit Familie. Es machte vielleicht mehr her, einen erfolgreichen Sohn zu haben. Und in der dargebotenen Version mochte dieser Sohn eines Tages zum Vorwand dienen, das Kind ein paar Stunden für sich allein zu haben. Er streichelte es mit Blicken. Und keine der Frauen erhob Einwände, als er es auf seinen Schoß nahm. Die Ältere lächelte geschmeichelt. Er kannte diesen Typ genau. Es reichte oft schon, solch einer Frau mit Höflichkeit zu begegnen. Hin und wieder ein Kompliment, zurückhaltend nur und niemals aufdringlich, dann wurden sie blind. Blind und taub und verlegen.
Kurz vor drei war meine Mutter mit der kleinen Mara gekommen. Sie hatte diese Besuche vor Monaten zur Regel gemacht, jeden zweiten Sonntag. Sonst saß sie immer
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