Der stille Herr Genardy
Grund. Du suchst nur einen Ersatz, Sigrid, irgendeinen Ersatz, der dir die Arbeit, das Denken und die Entscheidungen abnimmt. Und so geht das nicht, nicht bei mir. Ich muß selbst sehen, daß ich klarkomme. Jeder muß sehen, daß er klarkommt. Es ist nicht einfach, aber man kann es lernen.« Nachdem er gegangen war, lag ich noch lange wach. Es war fast zwei Uhr, es war bereits der dritte Tag. Es konnte jeden Augenblick etwas geschehen, ein Kurzschluß vielleicht und dann ein Feuer. Davon hörte man doch so oft. Oder daß ein Mülleimer in Brand geriet, weil jemand eine noch glühende Zigarettenkippe hineingeworfen hatte. Ich stand noch einmal auf und kontrollierte den Mülleimer. Es war alles in Ordnung. Nach drei muß ich dann wohl eingeschlafen sein, und um neun klingelte der Wecker. Ich fühlte mich ganz zerschlagen, aber trotzdem war ich irgendwie ruhig. Ich konnte mich noch deutlich erinnern, daß ich wieder etwas geträumt hatte. Irgendwas Besinnliches, Niedliches, keine Badewanne in einem völlig verwilderten Garten, nur Kaninchen, die ganz frei und zahm herumhoppelten. Kleine Wollknäuel im Gras. Ich hatte mir eins fangen wollen, um es auf den Arm zu nehmen, mein Gesicht in das weiche Fell zu drücken. Ich war noch ein Kind gewesen in dem Traum, und ich wollte nie etwas anderes sein. Es ging mir gut, ich wurde geliebt und umsorgt. Ich war jeden Tag nach der Schule bei den Großeltern, weil ich mit meiner Mutter nicht zurechtkam. Aber die Kaninchen ließen sich nicht einfangen, und noch im Aufwachen spürte ich die Enttäuschung und die Sehnsucht. Beim Frühstück sprach ich mit Nicole darüber. Ein Pferd würde ich ihr nie kaufen können, aber vielleicht ein anderes Tier, ein kleines, ein Kaninchen eben. Nicole wollte kein Kaninchen, kein Meerschweinchen, keinen Hamster. Sie wollte ein Pferd, zumindest Reitstunden oder gar nichts. Um halb zehn kam Günther. Wir saßen noch am Frühstückstisch. Er trank einen Kaffee mit. Er war auch nicht böse, als ich ihm das Geldstück über den Tisch schob. Ich hatte es kurz vorher neben der Kaffeemaschine gefunden. Er steckte es mit einem Achselzucken ein, dann grinste er.
»Ich dachte mir«, sagte er,»einen kleinen Schritt kann ich dir ja entgegenkommen. Ich nehme dir nicht deine Verantwortung ab, aber die Prinzessin für zwei Stunden.« Er wollte mit Nicole ins Hallenbad. Sie war begeistert, weil man mit ihm so toll um die Wette schwimmen oder tauchen konnte, rannte gleich in ihr Zimmer und kam nur zwei Minuten später im Bikini zurück. Ich war gar nicht einverstanden. Nicole holte ihr Handtuch aus dem Keller, wo es seit Freitag zum Trocknen hing, zog Jeans und Pullover über den Bikini. Und Günther grinste immer noch, aber es war nicht mehr fröhlich.
»Jetzt mach dich nicht verrückt«, sagte er,»sie schwimmt wie ein Fisch. Sie wird nicht absaufen. Bestimmt nicht, wenn ich dabei bin. Also bitte, Sigrid! Oder hast du wieder was geträumt?«
»Nur von Kaninchen«, antwortete ich. Wir lachten beide darüber. Der dritte Tag, und ich konnte lachen, ich verstand es selbst nicht. Sie blieben bis kurz vor Mittag im Hallenbad. In der Zeit hatte ich zweimal die leere Wohnung vorgezeigt. Der junge Mann war ein bißchen ungehalten, wollte mir nicht glauben, daß die Wohnung schon vergeben sei. Und die Frau mit Mann und drei Buben jammerte über die Herzlosigkeit der Westdeutschen, die immer alles gehabt hatten, nur kein Verständnis für die armen Brüder und Schwestern aus dem Osten. Ich blieb hart, obwohl sie mir leid tat. Kurz nach Mittag rief noch eine ältere Frau an. Sie hatte eine sehr sympathische Stimme, fragte allerdings gleich, ob die Wohnung im Erdgeschoß liege. Sie sei stark gehbehindert. Wieder nichts. Günther meinte, daß sich vielleicht gegen Abend oder im Laufe des nächsten Tages noch weitere Interessenten melden würden. Auf den Abend konnte ich hoffen. Am nächsten Morgen jedoch sollte das Telefon abgeschaltet werden. So hatte ich es mit Frau Humperts vereinbart.
»Dann gibst du eben die Annonce noch mal auf«, meinte Günther, »statt einer Telefonnummer die Adresse. Ist doch kein Problem.« Ich dachte an das Geld, das mich eine zweite Annonce kosten würde. Aber es war nicht mehr nötig, eine aufzugeben.
Am Sonntag mittag zog der Mann seinen besten Anzug an und fuhr los. Während der Fahrt machte sich ein leichtes Hochgefühl breit. Nur zu gut erinnerte er sich, wie sich vor drei Jahren alles zum Besseren gewendet hatte, kurz nachdem die Sache
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