Der stille Herr Genardy
noch ein paar Einkäufe fürs Baby zu machen. Und wir saßen noch nicht ganz, da sagte Mutter bereits:
»Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, Sigrid. Es ist zwar gut gemeint von Anke, aber findest du nicht auch, sie hätte mit demnächst zwei kleinen Kindern genug zu tun?«
»Sie hat es von sich aus vorgeschlagen«, widersprach ich. Mutter winkte ab.
»Jetzt verdreh nicht die Tatsachen. Was hätte sie denn tun sollen, als das Kind da plötzlich vor ihrer Tür stand? Du kennst Anke. Sie ist immer viel zu gutmütig. Sie hat gar nicht überlegt, worauf sie sich einläßt. Und von sich aus wird sie nicht mehr sagen, daß es nicht geht. Jetzt hoffe ich nur, daß du genug Anstand hast.« Mutter sprach fast ohne Pause weiter. Nicole stand dabei, schaute von ihr zu mir und wieder zu ihr, das Gesicht ganz unbeteiligt.
»Warum soll das Kind nicht mal einen Nachmittag allein sein können? Es ist doch nun wirklich alt genug, und vernünftig ist es auch.« Warum sagte sie nur immer
»das Kind«? Sie vermied es, Nicoles Namen auszusprechen, als ginge sie damit bereits eine Verpflichtung ein.
»Ich kann ja ab und zu mal nach dem Rechten sehen«, fuhr Mutter fort,»dagegen habe ich nichts. Aber es wird ja wohl möglich sein, für mittags irgendwas vorzubereiten. Außerdem kochst du ja abends, da bekommt es doch seine warme Mahlzeit.« Ja, mal eine Dosensuppe, mal eine Pizza oder einfach ein Wurstbrot, weil ich immer erst so spät heimkam. Aber es hatte überhaupt keinen Sinn. Mutter war wütend. Mutter war immer wütend auf mich. Und nicht einmal sie selbst wußte, warum. Mit ihrem Vortrag war sie erst einmal fertig. Sie wechselte das Thema, wollte wissen, ob es stimme, was Nicole erzählt hatte, daß Herr Genardy schon eingezogen sei. Ich zuckte mit den Schultern. Als ich dann jedoch meinte, mir käme das nicht ganz geheuer vor. Das alte Auto und so holterdiepolter in eine Wohnung einziehen, die er erst am Vortag gemietet hatte. Die Stille, der dunkle Türspalt. Und daß ich so ein beklemmendes Gefühl gehabt hätte, als ich unter der Dusche stand. Da regte Mutter sich darüber auf.
»Was soll das denn heißen? Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß er irgendwelche Absichten hätte? Überleg mal, was du da sagst! Hat Herr Genardy dir einen Anlaß gegeben zu solch einer Unterstellung? Sei doch froh, daß er nicht über deinem Kopf herumtrampelt.« In der Art ging es noch eine gute Viertelstunde weiter. Wenn Frau Hofmeister ein Schränkchen, einen Tisch und einen Sessel als alten Kram bezeichnet hatte, konnte es sich nur um Antiquitäten handeln. Und daß ein Beamter in leitender Position sich nicht scheute, eigenhändig ein paar kostbare Möbelstücke auf einen Leihtransporter zu verladen, bewies nur, daß er sein Geld nicht zum Fenster hinauswarf. Und wenn er seine Tür nicht hinter sich schloß, war er gewiß kein mißtrauischer Mensch, im Gegensatz zu mir. Aber ich war ja schon immer ein komischer Mensch gewesen, ein unmögliches Kind. Um vier Uhr standen wir endlich wieder auf der Straße. Nicole betrachtete mich verstohlen von der Seite. Sie schien mit sich zu kämpfen. Plötzlich sagte sie:
»Der eine Stuhl war aber kaputt. Im Sitzpolster war ein langer Riß, der war nur mit ein bißchen Klebeband geflickt.«
»Woher weißt du das? Ich denke, du hast nicht gesehen, wie er die Sachen ins Haus trug.«
»Hab’ ich auch nicht.« Sie senkte den Kopf und schabte mit einer Schuhspitze über den Boden.
»Als ich gestern reinkam, kam Herr Genardy gerade die Treppe runter. Dann ging er raus zu seinem Auto. Da bin ich mal eben raufgegangen. Nicht bis ganz oben.« Zur Bekräftigung schüttelte sie heftig den Kopf.
»Er hatte seine Tür aufgelassen, und der Stuhl stand direkt vor der Tür.«
»Wenn du den Riß in der Sitzfläche gesehen hast«, sagte ich,»dann warst du ganz oben. Tu das nicht noch mal.«
»Er hat mich doch nicht gesehen«, erklärte sie trotzig.
»Ehe er zurückkam, war ich längst wieder in unserem Wohnzimmer. Er hat nämlich die ganze Zeit sein Auto saubergemacht, mit einer Bürste, aber nur innen.« Dann wechselte sie sicherheitshalber das Thema.
»Du hättest Oma besser von dem Kind aus Köln erzählt. Da hätte sie bestimmt den Mund gehalten. Günther hat gesagt, die Mutter von dem Kind arbeitet auch den ganzen Tag, und sie arbeitet bei dir.«
»Ja«, sagte ich nur. Nicole schaute treuherzig zu mir hoch.
»Du mußt dir keine Sorgen machen. Ich passe auf«, versprach sie.
»Ich gehe auch
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