Der stille Herr Genardy
weggefahren sein. Im Geist sah ich ihn auf Socken die Treppen hinunterschleichen, so richtig geduckt und im Dunkeln wie ein Dieb. Ich sah ihn vor meiner Tür stehen, mit einer Hand über der Klinke, noch unschlüssig, ob er über mich herfallen sollte oder nicht. Es war lächerlich. Aber ich wußte nicht, was ich denken sollte. Vielleicht ging es diesmal um mich selbst. Vielleicht war ich jetzt an der Reihe. Und der Braune räumte mir eine längere Gnadenfrist ein als den anderen. Der sechste Tag! Ich räumte ein bißchen auf. Es ging ganz automatisch. Staubsaugen, Böden wischen. Die ganze Zeit hatte ich das Bedürfnis, nach dem dritten Wohnungsschlüssel zu suchen. Es fiel mir erst auf, als ich mich dabei erwischte, wie ich das gesamte Geschirr aus dem Schrank nahm, in jede Tasse schaute und sogar in der leeren Zuckerdose Staub wischte. Verrückt, einfach verrückt. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Jetzt war er garantiert nicht da. Ich wollte doch nur wissen, was er da oben gemacht hatte, zwei Tage lang und mindestens eine Nacht. Ich fand den Schlüssel nicht. Obwohl ich plötzlich meinte, daß ich mich genau erinnern könnte, wo ich ihn damals hingetan hatte. In das Holzkästchen, in dem ich seit Jahren alle möglichen Schlüssel aufbewahrte. Auch das Kästchen fand ich nicht gleich. Ich mußte einen ganzen Haufen Wäsche aus dem Schrank nehmen, ehe ich es in der hintersten Ecke entdeckte. Normalerweise stand es immer zwischen den Handtüchern und der Bettwäsche. Es mußte mit der Zeit weiter nach hinten gerutscht sein. Ich hatte es ja lange nicht mehr in der Hand gehabt, immer nur die Wäsche weggenommen oder eingeräumt. Als ich das Kästchen öffnete, mußte ich heftig schlucken. Da lagen das leere Schlüsseletui, das Franz immer bei sich gehabt hatte – ich war immer noch nicht auf dem Friedhof gewesen –, die beiden Schlüssel für das Garagentor, der Ersatzschlüssel für die Außentür vom Keller, ein paar andere, von denen ich auf Anhieb gar nicht wußte, zu welchem Schloß sie gehörten. Und zwei kleine Schlüssel, die zu einer Geldkassette gehört hatten. Franz hatte darin das Bargeld und wichtige Papiere aufbewahrt. Ein handgeschriebenes Testament, von zwei seiner Brüder als Zeugen unterzeichnet. Im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte vermache ich meinen gesamten Besitz meiner Frau Sigrid und meiner Tochter Nicole. Und dann noch ein Schlußsatz: Ich wünsche Dir viel Glück, mein kleines Mädchen. Den Umschlag hatte ich gefunden, da war Franz schon drei Monate tot. Ich wünsche dir viel Glück. Die Kassette existierte längst nicht mehr. Nicole hatte eine Weile Büro damit gespielt, sie irgendwann mit zu Denise genommen und dort vergessen. Dann hatten die kleinen Brüder sie im Garten vergraben. Ein kleiner Berg an Erinnerungen. Ich stellte das Kästchen zurück und räumte die Wäsche wieder ein. Der Schlüssel? Knapp sechs Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht hatte Nicole irgendwann mit dem Kästchen gespielt und ihn herausgenommen. Dann konnte er jetzt überall sein. Gleich nach Mittag machte ich zusammen mit Nicole Einkäufe. Ich konnte zwar die Lebensmittel von der Arbeit mitbringen, bekam darauf Personalrabatt. Aber es war viel Schlepperei, da machte ich lieber an meinem freien Tag eine Art Großeinkauf in der Stadt. Nicole schob den Wagen zwischen den Regalreihen durch, erzählte von Denise und von dem Jungen, der am Nebentisch saß und nicht so gut rechnen konnte. Sie fand ihn sehr nett und hatte ihm die Ergebnisse auf ein Zettelchen geschrieben, ganz heimlich natürlich, damit die Lehrerin es nicht sah. Und wie der Junge geguckt hatte und gelacht und sich bedankt, später, nach der Mathestunde. Und ein Kind aus der Parallelklasse bekam jetzt Reitstunden.
»Warum kaufen wir uns nicht ein Los von der Klassenlotterie?« fragte sie, als wir wieder auf der Straße standen.
»Das kostet nur fünf Mark. Und dann bekommen wir jeden Monat sechstausend Mark oder eine Million auf einen Haufen, wenn wir gewinnen. Im Fernsehen zeigen sie es immer. Dann könnte ich ein eigenes Pferd haben.«
»Wenn wir gewinnen«, sagte ich.
»Wir gewinnen nie.« Wir gingen bei Anke vorbei. Ich hatte Nicole versprochen, daß ich mit Anke reden würde. Essen und Schularbeiten machen ja, aber nicht das Kindermädchen für Mara spielen müssen. Anke war nicht daheim. Also gingen wir zu meiner Mutter. Nur Mara war bei ihr. Mutter erklärte kurz, daß Anke und Norbert nach Köln gefahren seien, um
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