Der stille Herr Genardy
ich einen großen Fehler gemacht hatte. Nachdem Herr Genardy wieder hinaufgegangen war, saß ich noch ein paar Minuten lang reglos auf der Couch. Am liebsten wäre ich ihm einfach nachgegangen. Vergessen Sie den ganzen Blödsinn, den ich Ihnen da gerade erzählt habe. Kein Wort davon ist wahr, ich mache mich nur gern ein bißchen wichtig damit. Wissen Sie, es ist so: Ich fühlte mich früher immer von meiner Mutter zurückgesetzt. Da habe ich irgendwann angefangen, von diesem Traum zu erzählen. Auf diese Weise bekam ich wenigstens ab und zu ein bißchen Beachtung. Es gab mir ein Machtgefühl, ich sah ja immer deutlich, wie schockiert meine Mutter war, daß sie Angst hatte. Ich hörte seine Schritte über mir, hin und her, hin und her, hin und her. Ganz offensichtlich hatte ihn meine Erklärung aufgewühlt. Was er jetzt wohl von mir denken mochte? Mit einem Arzt darüber reden, das war doch deutlich genug. Jetzt hielt er mich für verrückt, auch gut. Mit einer Verrückten geht man zwangsläufig ein bißchen vorsichtiger um, nicht wahr, Herr Genardy? Eine Verrückte ist unberechenbar, man weiß nie, was in ihrem Kopf vorgeht. Am Ende sieht sie gerade wieder den leibhaftigen Tod herumschleichen und schlägt einem die nächstbeste Vase über den Kopf. Mit einem Arzt reden! Und worüber sollte ich mit Hedwig reden? Konnte ich ihr überhaupt zuhören? Der Besuch selbst war kein Problem. Günther konnte mich mit nach Köln nehmen, wenn er zum Dienst fuhr, zurück kam ich schon irgendwie. Es fuhren ja immer Züge. Nicole würde den Sonntagnachmittag ohnehin bei den Kollings verbringen. Aber ich konnte nicht mit Hedwig reden. Ich würde schreien, wenn sie mir noch einmal das Zimmer ihrer Tochter zeigen wollte oder mir von Nadine erzählte. Vielleicht von dem Kaninchen, das sie ihr nicht hatte kaufen wollen. Im Wohnzimmer hielt ich es nicht aus, mit den Schritten über meinem Kopf, dem beständigen Hin und Her und der Furcht, die es ausdrückte. Wie Wassertropfen auf einem glattrasierten Schädel, Foltermethoden. Was denkst du jetzt, Josef Genardy? Ich wollte es lieber gar nicht wissen. Ich zog mich um, dann ging ich zum Friedhof, entschuldigte mich bei Franz, sprach lange mit ihm und wurde darüber ein wenig ruhiger. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß jetzt, es war nicht deine Schuld, aber es war auch nicht meine. Kein Mensch kann etwas für seine Gefühle und seine Bedürfnisse. Kurz vor sechs war ich wieder daheim. Wenig später kam auch Nicole. Sie kam nicht ins Wohnzimmer. Ich hörte, wie sie die Haustür öffnete und in ihr Zimmer ging. Ja richtig, heute war Donnerstag, donnerstags kam ich normalerweise sehr spät heim. Und neuerdings war ja die Wohnzimmertür verschlossen. Nicole konnte nicht wissen, daß ich schon daheim war, weil ich gesagt hatte, daß ich von der Beerdigung aus zur Arbeit gehen würde. Ich wollte zu ihr hinübergehen oder wenigstens nach ihr rufen. Da hörte ich, wie sie die Treppe hinaufstieg. Ich hörte sie da oben anklopfen und gleich darauf ihre Stimme. Nicht sehr laut. Wenn sie einen längeren Satz gesprochen hätte, hätte ich wahrscheinlich nichts verstanden. Aber sie rief nur zwei Worte:
»Herr Genardy?« Nichts, keine Antwort, auch die Tür wurde nicht geöffnet. Vielleicht war er noch einmal weggefahren. Seit ich vom Friedhof zurückgekommen war, war es oben still. Nicole kam wieder hinunter, und gleich darauf fiel die Haustür ins Schloß. Vom Fenster aus sah ich, wie sie die Straße hinunterging. Ich lief ihr nach. Sie war noch nicht weit, hielt ihre Barbie-Puppe in der Hand und in der anderen das kleine Köfferchen, in dem sie die Puppenkleider und Korbmöbel aufbewahrte. Als ich nach ihr rief, drehte sie sich um, pures Erstaunen im Gesicht.
»Mama? Ich wußte gar nicht, daß du schon da bist.« Sie kam wieder zurück, blieb vor mir stehen, wartete wohl darauf, daß ich etwas sagte.
»Was wolltest du im Haus?« Sie wurde verlegen, senkte den Kopf.
»Ich wollte nicht dableiben, wirklich nicht. Ich wollte nur die Sachen holen. Wir wollen noch ein bißchen damit spielen, nur bis sieben, ehrlich. Anke hat gesagt, um sieben Uhr muß ich zum Essen da sein. Denise wollte nicht mitgehen, da bin ich schnell allein gekommen.«
»Und was wolltest du von Herrn Genardy?« Nicole starrte mich an, offensichtlich irritiert von meinem Ton.
»Er ist nicht da«, erwiderte sie.
»Danach habe ich dich nicht gefragt.« Nicole wurde wütend, verzog den Mund.
»Oma hat gesagt, ich soll mal nachsehen,
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