Der stille Herr Genardy
aussteigen, als wir endlich vor dem Haus ankamen. Er stieg ebenfalls aus und kam mit bis zur Haustür. Auch dort machte er noch keine Anstalten, sich zu verabschieden.
»Geben Sie sich einen Ruck«, meinte er, als ich die Tür öffnete,»bieten Sie mir wenigstens einen Kaffee an und opfern Sie mir noch eine Viertelstunde. Ich würde mich gerne noch ein bißchen mit Ihnen unterhalten.« Er mochte in Günthers Alter sein, Ende Dreißig, Anfang Vierzig. Aber er war etwas kleiner als Günther, etwas fülliger, und sein Haar lichtete sich schon. Er schaute mich an fast so wie Franz damals, mit diesem Betteln im Blick.
»Gut«, sagte ich,»ein Kaffee.« Es war so still im Haus. Wie in einer Leichenhalle. Ich war fast ein bißchen froh, daß Wolfgang Beer sich nicht abwimmeln ließ. Auf dem Rest der Fahrt hatte ich mich einigermaßen normal gefühlt. Hatte ihm sogar erklären können, daß Nicole die Männer, die sie kannte, entweder mit Vornamen ansprach, wie Norbert und Günther, oder ganz höflich mit Nachnamen und dem Herr davor. Keinen Onkel, für Nicole gab es keinen. Und Männer, vor denen ich mich fürchtete, gab es auch nicht. Nicht mehr. Vielleicht hatte ich mich manchmal vor Franz gefürchtet, vor den Schmerzen, die immer dann kamen, wenn er sagte:
»Ich bin auch ganz vorsichtig. Ich tu dir nicht weh.« Und Herr Genardy, ach Gott, ich fürchtete mich ja nicht vor ihm. Er war mir nur manchmal ein bißchen unheimlich. Aber das lag nicht an ihm, das lag an mir. Und es passierte ja auch nur in den Momenten, in denen ich nicht bis drei zählen konnte. Aber das mußte ich nicht erwähnen, nicht einem Polizisten gegenüber. Ich hatte zu Wolfgang Beer gesagt, daß Norbert mein Schwager und Günther mein Freund war. Von Beruf Zeitungsredakteur. Ich hatte tatsächlich »mein Freund« gesagt. Und daß Günther mir von den alten Kaninchenställen in der Gartenlaube erzählt hatte. Daß mir seitdem zwei Sätze durch den Kopf gingen. Daß ich wahrscheinlich einfach zuviel Phantasie besaß. Großmutters Erbe, Großmutters Fluch. Gleich nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, ging es wieder den Berg hinunter. Der Schwamm saugte sich erneut voll Seifenlauge. Ich konnte kaum gegen die Blasen andenken, legte den Mantel über eine Sessellehne, ging in die Küche. Wolfgang Beer kam mit bis zur Tür, stand gegen den Rahmen gelehnt und schaute mir zu, wie ich die Kaffeemaschine füllte.
»Es muß Ihnen nicht unangenehm sein«, sagte er.
»Was immer Sie mir erzählen, es geht nur Sie persönlich etwas an. Ich werde nicht lachen, ich höre einfach nur zu.« In der Kaffeemaschine begann es zu blubbern. Die ersten dunkelbraunen Tropfen sammelten sich auf dem Boden der Glaskanne. Ich schaute zu, wie die winzige Pfütze größer wurde.
»Warum halten Sie sich nicht an den Studenten? Der kann Ihnen bestimmt mehr erzählen. Oder ist er der falsche Mann? Können Sie ihm nicht genug nachweisen?« Wolfgang Beer lachte leise.
»Sieh an«, meinte er,»der Herr Zeitungsredakteur. Die Burschen haben ihre Nasen doch wirklich überall.« Meine Frage hatte er damit nicht beantwortet. Er dachte auch nicht daran, das zu tun, erkundigte sich statt dessen:
»Wußten Sie, daß Hedwigs Tochter unbedingt ein Kaninchen haben wollte? Hedwig verliert den Verstand, weil sie ihr keins gekauft hat. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie sich ein wenig um Hedwig kümmern könnten. Einmal mit ihr reden, ihr zuhören. Vielleicht am Sonntag nachmittag?« Ich nickte, und er grinste, vielleicht kam es mir auch nur so vor. Aber es reizte mich.
»Ich hätte die Pillen aus ihrer Tasche genommen«, sagte ich,»und auch die fünfzig Mark.« Wolfgang Beer nickte, zuckte gleichzeitig ein wenig mit den Achseln.
»Ich auch«, erklärte er dann.
»Aber vielleicht denkt man anders darüber, wenn man selbst solch eine Pille geschluckt hat. Vielleicht denkt man dann gar nicht mehr darüber nach.«
»Hatte er eine davon geschluckt?«
»Ich weiß es nicht, möglich.« Als der Kaffee fertig war, setzten wir uns ins Wohnzimmer. Ich wußte nicht, was ich ihm noch sagen sollte, stellte Tassen auf den Tisch, holte Milch und Zucker aus der Küche. Dann hörte ich, daß ein Auto beim Haus hielt, für einen Moment stotterte der Motor im Leerlauf. Das Garagentor klappte, der Motor brummte noch einmal kurz auf. Als dann die Haustür geöffnet wurde, hatte ich das Gefühl, daß mir jemand einen Sack über den Kopf stülpt.
»Ihr Freund?« fragte Wolfgang Beer
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