Der stille Herr Genardy
ob er wieder da ist. Ich sollte gestern schon nachsehen, da hatte ich aber keine Lust. Ich hab’ ja auch nicht soviel Zeit, wenn ich immer bis um vier Uhr bei Anke bleiben muß. Vorher darf ich nicht mehr zu Denise kommen, sonst wird sie mit den Aufgaben nicht fertig. Sie trödelt nur noch herum. Ich könnte ihr ein bißchen helfen. Aber Frau Kolling hat gesagt, sie muß es alleine machen, sonst begreift sie es ja nie. Kann ich jetzt?« Mir wurde ganz leicht, obwohl ich neben der Befreiung so etwas wie Wut empfand. Oma hat gesagt.
»Du kannst«, sagte ich,»bis halb acht. Dann kommst du nach Hause, ich koche uns was.«
»Mein Ranzen ist aber bei Anke. Und Anke wartet doch mit dem Essen auf mich.«
»Ich gehe noch zu ihr. Deinen Ranzen bringe ich mit.« Ich sah ihr nach, wie sie die Straße hinunterlief. Zwei Schritte hüpfen, zehn Schritte rennen, einmal kurz über die Schulter zurückgedreht und die Hand mit der Puppe zu einem Winken gehoben.
»Bis halb acht«, rief sie. Ich nickte. Eine halbe Stunde später saß ich bei Anke. Mutter las Mara aus einem Buch vor. Mutter Bär und Vater Bär und das Bärenkind lebten in einem dunklen Wald.
»Du würdest mir einen großen Gefallen tun«, begann ich an Mutter gewandt, die mich jedoch vorerst nicht beachtete,»wenn du in Zukunft selbst nachschaust, wer daheim ist und wer nicht. Du kannst notfalls auch mich fragen. Er ist kurz nach fünf gekommen. Ich kann dir allerdings nicht sagen, ob er eben noch da war.« Mutter tat, als hätte sie mich gar nicht gehört, zeigte auf ein großes Bild im Buch, erkundigte sich bei Mara:
»Und wer ist das?« Mara steckte sich den Daumen in den Mund und nuschelte:
»Bebiber.« Anke grinste vor sich hin, wurde jedoch rasch wieder ernst.
»Bist du nicht mehr zur Arbeit gegangen?« Ein Kopfschütteln reichte.
»Wie war es denn?« fragte Anke mitfühlend.
»Scheußlich«, sagte ich leise. Ich blieb nicht lange, nahm Nicoles Ranzen und ging. Mutter las immer noch aus dem Bärenbuch. Anke grinste wieder, als sie mich zur Tür brachte. Sie hielt sich eine Hand in den Rücken, stemmte den Bauch vor.
»Dieses verfluchte Ziehen«, murmelte sie,»der Arzt meint, es sind Senkwehen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Vielleicht solltest du vorsichtshalber schon einmal deinen Koffer packen«, riet ich. Es war alles in Ordnung, es war alles gut. Meine Tochter spielte jetzt mit ihrer Freundin und Barbie-Puppen. Meine Mutter las von Vater Bär und dem Bärenkind. Und wenn ich nicht plötzlich farbige Flecken vor Augen gehabt hatte, war sie vorhin ein klein wenig rot geworden. Meine Schwester würde in allernächster Zeit ihr zweites Kind bekommen. Und ich würde am Sonntag Hedwig besuchen, ihr zuhören, sie trösten, wenn das irgendwie möglich war. Ich fühlte mich plötzlich durchaus imstande, Hedwig zu trösten, ihr wenigstens zuzuhören.
Freitags rief ich Günther an, erzählte ihm von der Beerdigung, von Wolfgang Beer, dem freundlichen Polizisten, der sich so rührend um Hedwig sorgte und mich heimgefahren hatte, aber nicht von dem, worüber ich mit Wolfgang Beer gesprochen hatte. Und Herrn Genardy erwähnte ich auch mit keinem Wort. Samstags holte Günther mich von der Arbeit ab. Wir kochten zusammen, aßen zusammen. Und als Nicole später in ihrem Bett lag, gingen wir zusammen unter die Dusche und anschließend zusammen auf die Couch. Herr Genardy war oben. Dort war er freitags gewesen, als ich heimkam. Und als wir samstags vorfuhren, stand er in der Garage und wischte an seinem Auto herum. Er grüßte freundlich. Ich hatte das Gefühl, mit einer Art von besonderem Respekt, die man vielleicht auch als Mißtrauen und Zweifel bezeichnen konnte. Ein bißchen kam er mir dabei vor wie meine Mutter, die sich auch sehr stark fühlte, wenn sie mir gegenüber stand. Die ihre Angst und das Unbehagen nicht zugeben konnte und dann lieber einmal mehr brüllte oder zuschlug. Und ganz hinten in meinem Kopf flüsterte Franz:
»Du hast was an dir.« Wenigstens etwas. Als wir dann ins Haus gingen, vergaß ich alles, Franz und meine Mutter und Herrn Genardy. Günther blieb über Nacht. Beim Frühstück am Sonntagmorgen erkundigte Nicole sich:
»Schläfst du jetzt am Wochenende immer hier?« Es klang ein wenig so, als sei sie nicht ganz damit einverstanden.
»Hast du was dagegen?« fragte Günther. Sie zuckte mit den Schultern.
»Ist mir doch egal.« Das klang noch ein wenig patzig. Aber kurz darauf saß sie ihm friedlich am Schachbrett
Weitere Kostenlose Bücher