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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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Italienische Eisdielen. Jedes Kind mag Eis. Eis und Limonade. Nicole nicht, die trank lieber Milch oder Saft. Nicole schwärmte auch nicht für Süßigkeiten. Sie knabberte lieber an einer Möhre, naschte die Gurkenscheiben aus der Salatschüssel, bettelte um Radieschen zum Abendbrot. Komisch, es fiel mir jetzt erst auf. Liebe, gute Frau Humperts, ich weiß immer noch nicht genau, wieviel ich Ihnen zu verdanken habe. Eis und Limonade, das ist der Käse in der Mausefalle. Wenn man davon trinkt, wird man müde. Dann schläft man ein. Und dann liegt man irgendwo, ganz friedlich, ganz wehrlos. Und man kann niemandem von den spuckenden Regenwürmern erzählen, die einem über die Beine kriechen, über den Bauch und den Mund. Der Mund, das war ein Traum, den Franz oft geträumt hatte. Und manchmal hatte er darum gebettelt, ihn sich verwirklichen zu können. Franz war tot, seit sechs Jahren schon. Vielleicht nicht ganz, ich hatte noch so viel von ihm in mir. Irgendeiner hat einmal gesagt, ein Mensch ist erst dann wirklich tot, wenn er vergessen ist. Wie hätte ich Franz vergessen können? Hedwig nahm Tassen und Unterteller aus einem Schrank. Ihre Bewegungen wirkten immer noch schleppend. Verschlafen, betäubt.
    »Die Tabletten, die du da hast«, fragte ich,»lassen die sich in Wasser auflösen oder in Limonade?« In Milch, du Trottel, frag nach der Milch. Sie steht im Keller, erreichbar für jeden, der sich im Haus aufhält. Man muß so eine Packung nicht öffnen. Wenn man eine Injektionsnadel hat, kann man durchstechen. Nicole trinkt viel Milch. Letzte Woche Donnerstag hast du ihr noch ein Glas ans Bett gebracht, und freitags kam sie nicht aus den Federn. Hör auf, Sigrid, hör doch auf, was soll das denn!? Sie war spät eingeschlafen. Und sie schwamm wie eine Bleiente, sagte die Lehrerin. Sie schwimmt wie ein Fisch, sagte Günther. Einen starken Kaffee zum Frühstück und zum Abendessen noch einmal von der Milch. Und dann ins Bett und eine ruhige Nacht. Hör auf, Sigrid. Es ist alles in Ordnung. Hedwig schaute kurz auf, zuckte mit den Schultern.
    »Weiß ich nicht, hab’ ich noch nicht versucht. Ich löse sie nicht auf, ich schlucke sie immer so runter.« Es geht doch gar nicht um Nicole. Die ist bei Denise, die ist in Sicherheit. Herr Kolling ist ein netter Mann, ein bißchen phlegmatisch. Für den sind Kinder ein Naturereignis wie ein Vulkanausbruch oder ein Erdbeben. Er ist froh, wenn er seine Ruhe hat und sich nicht mit ihnen auseinandersetzen muß. Aber Herr Genardy liebt Kinder; Franz liebte auch Kinder, kleine Mädchen vor allem. Und in bestimmter Weise hatte Anke vielleicht doch recht. Franz war ein Trampel gewesen, er war einfältig und bieder. Herr Genardy ist anders. Angenommen, nur einmal angenommen…
    »Was passiert, wenn man einem kleinen Kind eine davon gibt?« fragte ich.
    »Die sind nicht für Kinder«, erklärte Hedwig vorwurfsvoll.
    »Du würdest ein kleines Kind glatt umbringen damit.« Und dann begann sie zu weinen. Herr im Himmel, steh mir bei. Laß die Kinder spielen. Ich hätte Mara mitnehmen sollen. Sie ist noch so klein, sie hätte Hedwig nicht an ihre Tochter erinnert. Und ich wäre jetzt ruhig, müßte mich nicht mit solchen Vorstellungen herumschlagen. Es war doch nur eine Tablette. Halt die Gedanken im Zaum, Sigrid, laß sie nicht wieder durchgehen wie Pferde, die in Panik geraten. Hedwig häufte Kaffeepulver in die Tassen, füllte Wasser darauf.
    »Gehen wir wieder ins Wohnzimmer«, schlug sie vor,»da ist es gemütlicher. Nimmst du die Tassen mit, dann hol ich die Hefte.« Kurz darauf saßen wir nebeneinander auf der Couch. Und die Pferde gingen mir doch wieder durch. Ich hatte einen Ring wie aus Feuer um die Brust, glühende Kohlen im Bauch, meine Hände zuckten, ich konnte es nicht abstellen. Zuviel Phantasie. Und immer nur die schwarze, Großmutters Erbe. Der ganze Kopf füllte sich mit Rauch. Hedwig hatte drei Schulhefte auf den Tisch gelegt und blätterte in einem davon. Dann zeigte sie mit dem Finger auf eine Seite.
    »Da«, sagte sie,»eine verhauene Klassenarbeit, eine glatte Sechs und mein Name drunter. Aber das ist gar nicht meine Unterschrift. Das hier habe ich nie zu Gesicht bekommen.« Sie tippte erst mitten auf die Seite, dann etwas weiter unten.
    »Und das hier hat kein Kind geschrieben, das meint Wolfgang auch. Ein elfjähriges Kind, sagt er, schreibt ganz anders. Das muß ein Erwachsener gewesen sein. Er war das. Damit hat er sie eingewickelt, meinst du nicht auch?«

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