Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war
einer Gruppe Außenweltler gegründet worden, die der Meinung gewesen war, die anderen Bewohner der Jupitermonde seien zu verweichlicht und spießig geworden. Obwohl ihre Heimat angenehm
idyllisch war, waren die Bürger von East of Eden herb und engstirnig und legten viel Wert auf Angepasstheit, Tradition und Bürgerpflichten. Die höchste Bedeutung maßen sie jedoch den wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen und der Kunst bei. Jeder von ihnen verbrachte mehrere Tage der Woche damit, die Verwaltungseinrichtungen der Siedlung zu betreuen und ihre Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Ihre wahre Aufgabe sahen sie jedoch in der wissenschaftlichen Forschung – ohne dass diese auf ein klares Ziel oder eine Anwendung ausgerichtet gewesen wäre, außer dem Sammeln und Katalogisieren esoterischen Wissens um des Wissens willen – und in der Inszenierung komplexer Epen, Opern, Symphonien, Theaterstücken und anderer Kunstwerke. Sie hatten neue Meditationstechniken erfunden und verfeinert und die alte schwarze Kunst der Psychoanalyse wiederbelebt. Außerdem entwickelten sie gentechnisch veränderte Zierpflanzen und Tiere und befassten sich mit obskuren Problemen in der Mathematik und Philosophie, mit dem wirren Durcheinander an Theorien, die von den gescheiterten Versuchen übrig geblieben waren, eine einheitliche Physik zu begründen, und noch mit vielem anderen mehr. Und mindestens ebenso viel Zeit, wie sie für die Forschung und Kunst aufwandten, verbrachten sie im regen Austausch miteinander, sprachen mit anderen Mitgliedern von Kunstzirkeln oder Forschungsgruppen Strategien und Pläne durch, stritten sich in virtuellen Workshops mit Kontrahenten oder veranstalteten echte Konferenzen. Ihre Regierung – eine Art direkte Demokratie, die jener der Stadtstaaten des antiken Griechenlands oder der frühen Jahre der Römischen Republik glich – stützte sich ebenfalls auf endlose Diskussionen. Es gab keine gewählten Vertreter, keine direkten Volksbefragungen oder Abstimmungen. Stattdessen fanden einmal wöchentlich in den Dörfern Versammlungen
statt – für Angelegenheiten, die die ganze Stadt betrafen, einmal monatlich -, bei denen jeder Bürger seine Meinung sagen und abstimmen durfte. Luxus war ein Verbrechen; Selbstaufopferung eine Tugend. Alles, was nicht verboten war, war per Gesetz festgeschrieben.
Nach Macy Minnots Ansicht hatte die Stadt ungefähr so viel Ähnlichkeit mit Utopia wie ein Ameisenhaufen. Sie war vor drei Monaten nach East of Eden gekommen, unmittelbar nach ihrem Überlaufen zu den Außenweltlern. Die Regierung von Rainbow Bridge auf Kallisto hatte darauf bestanden. Offiziell war dies zu ihrem eigenen Schutz geschehen. Inoffiziell wusste sie nur zu gut, dass die Bewohner Kallistos froh gewesen waren, sich der unangenehmen Erinnerung an einen peinlichen Vorfall möglichst rasch zu entledigen.
East of Eden hatte sich nicht aus Barmherzigkeit oder Mitgefühl bereit erklärt, sie aufzunehmen, sondern weil die Stadt damit irgendeine Ehrenschuld begleichen konnte, die seit langer Zeit gegenüber Rainbow Bridge bestanden hatte. Macy war ein Berater zugeteilt worden, ein übellauniger alter Mann namens Ivo Teagarden, und sie hatte eine Anstellung als einfache Arbeiterin auf den Farmen von East of Eden erhalten. Allerdings war ihr Zugang zum Stadtnetz eingeschränkt, und sie durfte die Stadt selbst nicht verlassen. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie teils Gefangene, teils zoologisches Anschauungsobjekt war. Dennoch war sie entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen. Sie richtete ihre Energie darauf, die Einzimmerwohnung, die ihr im Dorf Lots Los zugewiesen worden war, umzugestalten: Sie verlegte und polierte einen Bambusholzboden, strich die Wände in verschiedenen Abstufungen von Grün und Rosa und spielte mit der Beleuchtung, flieste das kleine Bad neu, züchtete Kräuter und Chilipflanzen in Töpfen
auf der mit Steinplatten ausgelegten Terrasse und zog eine Feigenranke um die Eingangstür herum. Sie sagte sich, dass sie sich zum ersten Mal an einem Ort wirklich häuslich einrichtete. Aber in den Augenblicken, wenn sie einmal niedergeschlagen war, kam ihr die Wohnung eher wie eine Zelle vor und das Nabelschau betreibende Taschen-Utopia von East of Eden wie ein Gefängnis.
Bisher hatte sie nur wenige Freunde gewonnen. Ivo Teagarden. Den Inhaber ihres Lieblingscafés im Speisesaal von Lots Los, Jon Ho. Sada Selene und ihre kleine Gang von Abweichlern. Eine
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