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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Ulrich gewesen, und da habe ein Freund ihres Mannes einen Brief gebracht, in dem sie um sofortige Entscheidung gebeten wurde. In der Zwischenzeit sei sie wegen einer Blinddarmoperation im Krankenhaus gewesen und niemand habe sie besucht. Da habe sie sich gedacht, daß das Alleinsein auch nichts wert sei. Das sei ihr eingefallen, und sie habe »Post geschickt«, daß sie mit dem Heiratsantrag einverstanden sei.
     
    Am Abend begann es zu schneien. Ascher saß in der Küche und verheizte das letzte Holz. Er hatte den Betteinsatz über die Bodenstiege hinuntergetragen. Nun las er den Brief seiner Frau. Er wollte nicht, daß sie ihm etwas verheimlichte. Er konnte jedoch keinen Hinweis dafür entdecken und las den Brief noch einmal. Dann legte er ihn auf den Tisch, damit er ihn den ganzen Abend sehen und – wenn er wollte – in kleinen Abschnitten wiederlesen konnte. Das Mikroskop hatte er mit einem Nylonsäckchen zugedeckt und ins Freie gestellt. Dort würde es über Nacht bleiben.
     

13
     
    Am Morgen schneite es noch immer. Ascher zog sich an und begab sich vor das Haus. Die Triebe des Mikroskops ließen sich wegen der Kälte schwerer bewegen, er suchte nach Uhrmacheröl, von dem er ein kleines Tröpfchen in das Fett der Gleitlager fallen ließ. Wenn er etwas ablegte, klangen die Geräusche wohltuend deutlich. Die Pinzette kratzte auf der Tischplatte, das Glas der Objektträger gab ein helles, schleifendes Geräusch von sich. Der erste Schneekristall, den er beobachtete, glich einer gläsernen Blume. Die Strahlen waren untereinander durch eine wellenförmige Linie verbunden, die den Eindruck einer Blüte in einer Blüte vermittelte. Wie schnell der Kristall verdunstet war … Am nächsten standen die Strahlen balkenförmig und nach außen hin zugespitzt weg, in den Strahlen selbst waren die Strukturen wie Pflanzenmuster zu sehen. Dann entdeckte er ein sechseckiges Gebilde, an dessen Ecken kleine Fünfecke herauswuchsen. Der Zauber lag in der Gleichmäßigkeit, in der geometrischen Wiederholung. Als er ein Kind gewesen war, hatte seine Großmutter Muster in gefaltetes Papier geschnitten, und die aufgeklappten Papiere waren dann von komplizierten, sich wiederholenden Formen durchbrochen gewesen – daran erinnerte er sich. Er hatte einen feinen Pinsel, mit dem er die Kristalle aus den Flocken löste, aber auch wenn er noch so vorsichtig war, konnte er nicht verhindern, daß Teile abbrachen. Was sagten ihm diese Formen? Über welche Ordnung gaben sie Auskunft, die bis in das Kleinste wirksam war und sich in das Größte fortsetzte? Nach einer Weile des Betrachtens wurde ihm kalt, er trug die Instrumente und das Mikroskop zurück in das Haus und beschloß, die Witwe aufzusuchen, um sich Brennholz zu besorgen. Gleich beim Erwachen hatte er an seine Frau gedacht und wieder ihren Brief gelesen.
    Unten im Graben standen Holzgestänge für Heu, die Maiskegel sahen wie verschneite Erdhügel aus, und eine Krähe lief mit hohen Sprüngen über die weiße Wiese. In der Küche der Witwe wurde gerade ein Schwein zerlegt. »Draußen ist es zu kalt«, sagte der Schlächter, als Ascher ihn grüßte. Die Witwe kam mit einer großen Milchkanne herein, die sie so hart auf den Boden stellte, daß es klapperte. Ascher fragte sie, ob er ihr helfen könne, aber sie verneinte. Dann erkundigte er sich, wo er Brennholz kaufen könne. »Beim Nachbarn«, antwortete sie.
    Der Schlächter war ein grauhaariger Mann mit vorstehendem Kinn und einer großen weißen Schürze, die Blutflecken hatte.
    Auf Aschers Frage, ob er Fleischhauer sei, antwortete er, er arbeite im Sägewerk, das Schweineabstechen mache er »nur zum Vergnügen«.
    »Sie werden sehen, daß er ein musikalischer Mensch ist«, sagte die Witwe, »er spielt seit vierzig Jahren in St. Ulrich die Orgel.«
     
    Ascher bemerkte, daß der Himmel, vom Hügel aus gesehen, nicht einheitlich gefärbt war: Dort war er heller, hier dunkler, dort grau und gelb, hier weiß, dort gingen die Farben wie unterschiedliche Rauchschwaden ineinander über, hier war er stumpf und regelmäßig.
    Er stieg den steilen Hang zum Nachbarn hinauf, ein Schäferhund lief ihm bellend entgegen und umtänzelte ihn. Der Nachbar war ein zäh aussehender, knochiger Mann mit einem Ledergesicht, Falten und hellen Augen. Über den Lippen trug er einen schmalen Schnurrbart, auf dem Kopf einen Hut. Ascher verstand kaum, was er sagte. Er gab ihm die Hand und brachte seinen Wunsch hervor. Die Hand des Mannes war hart und

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