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Der stille Schrei der Toten

Der stille Schrei der Toten

Titel: Der stille Schrei der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Ladd
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umkreiste er mich auf Zehenspitzen, als wäre ich eine gespaltene Persönlichkeit oder so was. Vielleicht glaubte er, dass ich nämlich durch diese jüngste Katastrophe in meinem Leben den Verstand verloren und mein rüpelhaftes Alter Ego hervorgekehrt hätte. Vielleicht hatte er unter seinem Schreibtisch eine Zwangsjacke versteckt, falls ich komplett ausrastete.
    Ich beantwortete seine Frage nicht, weil ich nicht sicher war, ob ich es wirklich wollte, nicht wusste, warum ich ihn gerade aufgefordert hatte, mit mir ins Bett zu steigen. Ich wollte lediglich, dass er irgendetwas tat, damit dieser Schmerz in meinem Innern aufhörte.
    Er durchquerte den Raum, bis er fast vor mir stand und mich ansah. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob dafür jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Ich helfe dir, wie auch immer ich kann … wir müssen nicht in die Kiste springen, damit es dir besser geht.«
    Ich sah ihn einen Moment lang an und fühlte mich durch seine höfliche Absage verdammt gedemütigt, verbarg das aber hinter einem unbeteiligten, sorglosen Lachen. Ich biss die Zähne zusammen und strich mit den Fingern durch meine feuchten ungekämmten Haare. »Nun, mit diesem Korb hätte ich natürlich rechnen müssen. Was soll man an so einem Tag anderes erwarten?«
    Wieder schwieg er. Und wieder war ich stocksauer. Wahrscheinlich brauchte ich jemanden, an dem ich mich festhalten konnte, während er mir auswich und mich stattdessen analysieren wollte. Vielleicht sollte ich zum Steg hinuntergehen und mir Tyler schnappen.
    »Warum erzählst du mir nicht alles, was an jenem Abend mit dir und deinem Mann und Harve passiert ist? Die Zeitungsartikel sind nicht sonderlich detailliert.«
    »Ich fand sie immer sehr detailliert.«
    Die Frage weckte schreckliche Erinnerungen an meinen kleinen Zack, wie er leblos in meinen Armen lag, und an Harve auf der Intensivstation. Ich verdrängte die Erinnerungen und setzte mich auf die Lehne eines weißen Sofas, damit er das kurze Spitzennachthemd unter dem roten Morgenmantel besser sehen konnte. Er tat mir den Gefallen, auf mein Dekolleté zu linsen, um mich dann anzusehen, wie um zu fragen, warum ich ihn anmachte. Dasselbe fragte ich mich auch. Es war so gar nicht mein Stil. Normalerweise jedenfalls. Ich konnte mich nicht beherrschen und war so wütend auf mich, weil ich meine Koketterie nicht lassen konnte.
    Er setzte sich in einen wuchtigen Ledersessel und schlug seine langen Beine übereinander. Der Inbegriff überlegener, kontrollierter Männlichkeit, dachte ich.
    »Wenn du so an meiner Geschichte interessiert bist, vielleicht sollte ich dann gleich hier einziehen, damit du rund um die Uhr Freud mit mir spielen kannst. War es das, was dir vorschwebte? Vielleicht kann ich ja die Hauptfigur in deinem neuen Buch sein, hm, Dr. Black? Was sagst du dazu?«
    Seine Kiefer verkrampften sich und fingen an zu mahlen, und ich dachte schon, jetzt hätte ich ihn gepackt, bis er, nach wir vor ruhig und nett, sagte: »Meiner Meinung nach versteckst du dich hinter deinen sarkastischen Witzen, um deine wahren Empfindungen abzukapseln. Dann fühlst du dich in deinem Inneren so richtig schön tot und abgestorben, so wie du es magst. Du verschanzt dich hinter einem System aus Verteidigungsmechanismen, damit du wie ein normaler Mensch funktionieren kannst. Ich glaube, du hast deinen Job ein Leben lang gemacht, weil du niemanden an deine wahren Gefühle herankommen lassen willst. Und jetzt, da dir dein Job genommen wurde, fühlst du dich allein und einsam und elend und wütend, aber genau das kommt dir zupass, weil du, als Überlebende, so voller Schuldgefühle steckst, dass du glaubst, du verdienst die ganze Scheiße, die dir widerfährt.«
    Mich interessierte das alles nicht die Bohne. »Na wer sagt’s denn! Der Meisterpsychiater lässt die Muskeln spielen und stemmt eine 5-Cent-Diagnose in die Höhe. Bravo, Doktorchen.« Ich klatschte in die Hände.
    »Das kannst du sehen, wie du willst, aber ein Psychiater ist nun mal genau das, was du im Moment brauchst, ob du’s zugibst oder nicht. Du musst dich einfach ausquatschen und dir helfen lassen, ehe es dich völlig zerstört.«
    »Ich werde mir nicht die Kleider zerreißen und weinen, solltest du das glauben. Tut mir leid, das hab ich schon probiert und hinter mir.«
    Er runzelte die Stirn. »Kannst du mir sagen, was dieses Theater eigentlich soll? Du bist doch extra zu mir gekommen und hast also offenbar das Bedürfnis,

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