Der stille Schrei der Toten
einhandeln, aber im Moment bin ich auf der Fifth Avenue beim Shoppen.«
»Na hoffentlich erfährt Charlie nichts davon. Aber ich hab mir auch das eine oder andere neue Stück zugelegt. Ein David-Letterman-T-Shirt zum Beispiel, das ich dir zum Geburtstag schenken will, wenn ich es nicht mehr brauche.«
»Genau das Richtige für hier oben.« Wir lachten beide, dann fragte er: »Bist du noch immer in New Orleans?«
»Im Moment dringe ich gerade tiefer ins Mississippidelta vor.«
»Wie bitte?«
Ich erzählte ihm, was passiert war, worauf er beeindruckt durch die Zähne pfiff. »Und Charlie hat diesen kleinen Abstecher tatsächlich genehmigt?«
»Ja, du weißt doch, wie dick er mit Black befreundet ist. Ich wollte dich nur bitten, die Sümpfe zu durchkämmen und sämtlichen Alligatoren den Magen auszupumpen, falls du mich nicht wieder siehst.«
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Nein, aber ich glaube nicht, dass Black so beschränkt ist, mich hier zu ermorden, nachdem jeder weiß, dass es seine Idee war, Sumpf-Fuchs zu spielen. Ich werde aufpassen wie ein Schießhund, glaub mir. Hat sich bei dir inzwischen was Neues ergeben?«
»Seine Exfrau hab ich schon gesprochen. Sie hat ein absolut wasserdichtes Alibi. Mehr davon später. Jetzt geht’s noch zum Set, wo ich ihre Schauspielerkollegen aus A Place inTime interviewen will, wenn sie mit dem Tagesdreh fertig sind.«
»Alles klar. Wann trittst du die Heimreise an?«
»Wahrscheinlich heute Abend.«
Wir beendeten das Gespräch, und ich fragte mich, was Black in der Vermietbaracke oben so lange machte. Dann fragte ich mich, ob ihm das alles vielleicht gehörte. Unter Umständen gehörte ihm vielleicht sogar der ganze Sumpf, und er plante längst ein Fünf-Sterne-Resort auf Pfählen.
»Was zum Teufel fällt dir ein?« Es war die Stimme des Mannes. Ich drehte mich nach ihnen um und sah, dass er den kleinen Jungen am Ohr festhielt. Er zerrte daran, bis der Junge zu Boden fiel und zu weinen anfing. »Du holst mir jetzt sofort eine Gerte, verstanden, du Nichtsnutz?«
Ich spürte, wie ich mich verkrampfte, aber die Mutter sah weiter auf ihren Teller und sagte kein Wort. Der Junge, er mochte vielleicht sechs gewesen sein, rannte zum nächstgelegenen Strauch und riss einen kleinen Zweig ab. Er weinte, als er damit zurücklief.
»Verdammt, du kleines Drecksstück, mit diesem lächerlichen Ding soll ich dir den Hintern versohlen?« Der Mann brüllte wie ein Tyrann aus Leibeskräften. Ich knirschte mit den Zähnen. »Geh und hol eine dickere, damit ich dich grün und blau schlagen kann.«
Der kleine Junge sah zu seiner Mutter, ehe er wieder losrannte. Dann stand die Mutter auf. Oh je, dachte ich, als sie mit zitternder Stimme sagte: »Bobby Ray, Ricky hat doch nichts getan. Er mag nur keine Zwiebeln auf seinem –«
»Du willst mir widersprechen, Shelley? Du wagst es, mir zu widersprechen?«, sagte Bobby Ray und schlug ihr dann mit der flachen Hand so plötzlich und heftig ins Gesicht, dass sie zu Boden fiel. Ich stand auf und ging hinüber, während er direkt vor ihr stand, bereit, noch ein-, zweimal mit dem Fuß nachzukicken. Der kleine Junge stand wie erstarrt vor den Sträuchern. Wahrscheinlich wusste er genau, was seiner Mutter jetzt drohte.
»Hallo, Sir, entschuldigen Sie mich bitte«, sagte ich auf meine höfliche Polizistinnenart. Bobby Ray schnellte herum, und ich konnte den Fusel in seinem Atem schon aus kurzer Entfernung riechen. Er hatte diese langen hässlichen Elvis-Koteletten im Gesicht und trug ein schmuddeliges ärmelloses Unterhemd mit drei Senfflecken vorne drauf und eine enge schwarze Wrangler-Jeans auf seinem mageren kleinen Hintern. Er war rot angelaufen in der freudigen Erwartung, seine Frau zu verprügeln, und sah mich mit seinen alkoholglasigen Augen finster an, weil ich ihm den Spaß verdorben hatte.
Er sagte: »Was zum Teufel wollen Sie?« Er brannte geradezu darauf, jemanden halb tot zu schlagen, und mir drängte sich der Verdacht auf, dass ich an diesem Tag diejenige sein könnte. Vielleicht aber zur Abwechslung auch mal er, wenn alles so lief, wie geplant.
Ich sagte allerfreundlichst: »Ich konnte nicht umhin zu sehen, dass Sie ein blödes Riesenarschloch sind.«
»Hä? Was sagen Sie da?« Bobby Ray war verwirrt. Vielleicht hatte ihm bis jetzt noch keiner die Wahrheit mitten ins Gesicht gesagt.
»Ich sagte, Sie sind ein blödes Riesenarschloch.«
Er starrte mich fassungslos an, weshalb ich fortfuhr: »Wissen Sie, was
Weitere Kostenlose Bücher