Der Stolz der Flotte
lesen. Und das war ebenfalls merkwürdig, denn nie hatte Bolitho ihm irgendwelches Einfühlungsvermögen zugetraut. »Soll ich ein paar Mann losschicken und Leutnant Calvert suchen lassen, Sir?« Er wartete auf Antwort und wiegte sich in knarrenden Stiefeln. »Einen Halbzug hätte ich allenfalls für ein paar Stunden übrig.«
Bolitho stellte sich Calvert mit seinen vier Begleitern vor – irgendwo in der Finsternis, verschreckt, hilflos. Besser wären sie tot, als daß sie den marodierenden Beduinen in die Hände fielen, von denen Draffen gesprochen hatte.
»Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Aber setzen Sie das Leben Ihrer
Leute nicht sinnlos aufs Spiel, Hauptmann Giffard«, schloß er widerstrebend.
Der Marine-Infanterist erwiderte gravitätisch: »Meine Leute tun, was befohlen wird, Sir.« Dann grinste er, als amüsiere er sich über seine eigene Angeberei. »Ich schicke sie sofort los.«
Im mittleren Turm befanden sich vor allem die Unterkünfte der Offiziere, von denen drei ihre Frauen bei sich hatten. Während Bolitho vorsichtig über Steinbrocken, allerlei persönliche Habe, Kleidungsstücke und dergleichen nach oben stieg, fragte er sich, was eine Frau in der Gluthitze von Djafou wohl für ein Leben führen mochte.
Das Quartier des Kommandeurs befand sich ganz oben und hatte Ausblick über die Bucht und den schnabelförmigen Landvorsprung.
Er saß in einem hochlehnigen Sessel und wollte aufstehen, als Bolitho, gefolgt von Allday, ins Zimmer trat. Er trug einen elegant gestutzten grauen Bart, aber sein Gesicht hatte die Farbe ausgeblaßten Pergaments; wahrscheinlich hatte er mehrere schwere Fieberattacken hinter sich. Er war ein alter Mann mit runzligen Händen, die kraftlos auf den Armlehnen des großen Sessel ruhten, und hatte diesen Kommandeursposten vermutlich bekommen, weil niemand, auch er selbst nicht, ihn haben wollte.
Glücklicherweise sprach er gut englisch. Seine leise, kultivierte Stimme wirkte in dieser grimmen, kompromißlosen Umgebung fehl am Platze.
Bolitho hatte bereits von Bickford gehört, daß er Francisco Alava hieß und früher Oberst bei den Leibdragonern Seiner Katholischen Majestät des Königs von Spanien gewesen war. Und jetzt hatte er bis zu seinem Todestag die trübseligste Garnison in der Kette der spanischen Mittelmeerbesitzungen befehligen sollen. Bolitho nahm an, daß er einmal einen geringfügigen Bruch der Etikette begangen oder sich sonstwie falsch benommen hatte und deswegen auf diesen Posten abgeschoben worden war.
»Es wäre mir angenehm, wenn Sie mir Ihr Quartier für den Augenblick überlassen würden, Colonel Avala«, sagte Bolitho höflich.
Zitternd hoben sich die beiden Hände und fielen auf die Armlehnen zurück. Krankheit, Alter, die schrecklichen Detonationen von Inchs Mörsern hatten seinen an sich schon geringen physischen Reserven hart zugesetzt.
»Dank für Ihre Humanität, Captain«, entgegnete er. »Als Ihre Soldaten erschienen, fürchtete ich, sie würden alle meine Leute abschlachten.«
Bolitho lächelte grimmig. Giffard hätte bestimmt dagegen protestiert, daß man seine Marine-Infanteristen einfach »Soldaten« nannte. Er erwiderte: »Bei Tageslicht werden wir sehen, was sich tun läßt, um die Verteidigungsanlagen wieder instand zu setzen.« Er trat an eins der offenen Fenster und blickte auf die dunkle, wi rbelnde Strömung unter der Festung. »Ich erwarte in Kürze weitere Schiffe. Eins davon müssen wir trockenfallen lassen, um Schäden zu reparieren.« Er schwieg einen Moment und drehte sich dann so scharf um, daß selbst Allday zusammenfuhr. »Sie kennen es vielleicht, Colonel – die
N
a
varr
a
!«
Nur für den Bruchteil einer Sekunde sah er Beunruhigung in den Augen des alten Mannes aufblitzen. Dann zuckten die Hände, und er nahm sich zusammen.
»Nein, Captain.«
Bolitho wandte sich wieder zum Fenster. Er lügt, dachte er, und das ist so gut wie der Beweis, daß dieses gottverlassene Felsennest tatsächlich Witrands Ziel gewesen war. Vermutlich war die Brigg dort unten das Schiff, das ihn auf hoher See hatte abholen sollen.
Aber für diese Dinge war später noch Zeit. Inzwischen konnte sich der Kommandeur überlegen, was jetzt, nachdem das Fort gefallen war, für seine eigene Sicherheit ausschlaggebend war.
Er nickte Bickford zu. »Eskortieren Sie ihn in den Nebenraum und halten Sie die anderen Offiziere von ihm getrennt.«
Der Kommandeur hinkte durch eine Tür, und von der anderen Seite kam Sawle herein. Sein Hemd war
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