Der Stolz der Flotte
schrecklich es auch sein mochte, dem Geschützfeuer hier unten hilflos ausgesetzt zu sein. Aber andernfalls hätte es sicher außer dem Kapitän und den Offizieren noch mehr Tote gegeben.
»Sie wollen doch nicht etwa runter, Captain?« flüsterte Allday. Bolitho hörte gar nicht hin. »Macht das Luk auf!«
Mit geneigtem Kopf hörte er zu, wie Meheux oben seine Befehle brüllte, und horchte auf das darauffolgende Tappen nackter Füße an Deck. Anscheinend war da wieder eine gefährliche Situation eingetreten; aber Meheux konnte allein damit fertig werden. Jetzt mußte er erst die Passagiere sehen, denn hier unter der Wasserlinie würde er sicher die Antwort auf eine seiner Fragen finden.
Zuerst konnte er überhaupt nichts sehen. Aber als die Matrosen den Lukendeckel aufgeklappt hatten und Ashton seine Laterne direkt über die Leiter hielt, spürte er die plötzlich von unten hochsteigende Angst und Spannung wie etwas Körperliches. Er stieg zwei Stufen hinab, und als das Licht der Laterne auf ihn fiel, barsten ihm fast die Ohren von dem wilden Geschrei. Hunderte von Augen, so kam es ihm vor, glühten in dem grellen Lichtstrahl auf, wie von allem Menschlichen losgelöst. Aber die Stimmen waren menschlich genug. Über dem Schreckens- und Angstgebrüll erhoben sich die schrillen Schreie von Frauen und Kindern. Dabei wurde ihm klar, daß viele von denen da unten überhaupt nicht wußten, was an der Oberwelt geschehen war. Er blieb stehen. »Still da unten!« brüllte er hinab. »Ich sorge dafür, daß euch nichts…«
Es war hoffnungslos. Schon faßten Händen nach den Stufen und nach seinen Beinen, die Masse der glühenden Augen kam schwankend näher, weil die weiter hinten Stehenden nachdrängten.
»Lassen Sie mich versuchen, Sir«, keuchte Ashton, »ich kann ein bißchen Spanisch.«
Bolitho zog ihn die Leiter hinunter und brüllte: »Sagen Sie ihnen bloß, sie sollen ruhig sein!«
Ashton versuchte, sich in dem Getöse verständlich zu machen, und Bolitho rief den beiden Matrosen zu: »Holt noch ein paar Mann her! Schnell, sonst trampeln sie euch zu Mus!«
Ashton zupfte ihn am Ärmel. »Sir! Da will Ihnen jemand etwas sagen!«
Es war ein dicker, ängstlicher Mann, dessen kahler Kopf im Laternenlicht wie polierter Marmor schimmerte. »Ich spreche englisch, Captain! Ich werde ihnen sagen, daß sie gehorchen sollen; Sie müssen mich nur aus diesem schrecklichen Loch herausholen!« Vor Angst und Erschöpfung weinte er fast, aber er hielt noch irgend etwas krampfhaft fest in der Hand – eine Perücke, wie Bolitho jetzt erkannte.
»Ich hole Sie sofort heraus. Bleiben Sie auf der Leiter und sagen Sie ihnen Bescheid!« Der Unbekannte, der weder jung noch fest auf den Füßen war, tat ihm plötzlich leid. Aber im Augenblick war er sehr wertvoll, und man durfte ihn keinesfalls aus den Augen verlieren.
Der Kahlkopf besaß eine bemerkenswert tragende Stimme, wenn er auch ein paarmal absetzen mußte, um wieder zu Atem zu kommen.
Die Leute schrien nicht mehr ganz so laut, und auf seine Beschwörungen hin ließ der Ansturm auf die Leiter etwas nach.
Keuchend kam der Steuermannsmaat mit drei Matrosen herbeigeeilt. »Ah, Mr. Grindle, das ging schnell«, rief Bolitho ihnen entgegen.
»Jetzt fangen Sie an, die Kinder nach oben zu bringen; weiß der Himmel, wieviel es sind. Und dann die Frauen…« Er brach ab, denn ein völlig verstörter Mann versuchte, an Ashton vorbei die Leiter hinaufzukommen. Er packte ihn am Rock und sagte grob: »Erklären Sie dem Mann, daß ich ihn über Bord werfen lasse, wenn er den Befehlen nicht gehorcht!« Etwas ruhiger fuhr er fort: »Bringen Sie alle arbeitsfähigen Männer an Deck zu Mr. Meheux!«
Zweifelnd wandte Grindle ein: »Das sind doch keine Seeleute, Sir!«
»Ganz egal. Geben Sie ihnen Äxte; sie sollen die Wrackteile kappen und alles losgerissene laufende Gut. Sie können auch die Geschütze über Bord werfen, wenn Sie es schaffen, ohne daß die Dinger an Deck herumrollen.« Er hielt inne und horchte auf den Wind, der gegen die Bordwand peitschte, auf das immer stärker werdende Stöhnen und Krachen der Planken, das von allen Seiten zu kommen schien.
Grindle nickte. »Aye, Sir. Aber retten werden wir das Schiff damit doch nicht.«
»Tun Sie, was ich sage.« Grindle wollte fort, aber Bolitho hielt ihn zurück. »Hören Sie, Mr. Grindle, eins müssen Sie kapieren: diese Menschen können nicht von Bord, denn es sind keine Boote mehr da, und bei diesem Seegang kann man kein Floß
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