Der Streik
Getränken, um die jemand in Lillians Gruppe gebeten hatte, den Raum – eine unziemlich informelle Handlung, die niemals zuvor jemand bei ihm gesehen hatte –, als Dagny auf ihn zukam. Sie blieb stehen und sah ihn an, als wären sie allein in seinem Büro. Sie stand wie eine Geschäftsfrau vor ihm, mit hocherhobenem Kopf. Er sah auf sie hinunter. Er ließ seinen Blick von den Fingerspitzen ihrer Hand bis hinauf zu ihrem Gesicht schweifen. Dieser Teil ihres Körpers war nackt, mit Ausnahme seines Metallarmbands.
„Es tut mir leid, Hank“, sagte sie, „aber ich musste das tun.“
Seine Augen blieben ausdruckslos. Doch sie war plötzlich sicher zu wissen, was er fühlte: Er wollte ihr ins Gesicht schlagen.
„Es wäre nicht nötig gewesen“, antwortete er kalt und ging weiter.
*
Es war schon sehr spät, als Rearden das Schlafzimmer seiner Frau betrat. Sie war noch wach. Auf ihrem Nachttischchen brannte eine Lampe.
Sie lag auf Kissen aus hellgrünem Leinen gestützt im Bett. Ihr Bettjäckchen war aus blassgrünem Satin, und sie trug es mit der unberührten Perfektion einer Schaufensterpuppe. Seine glänzenden Bügelfalten sahen aus, als läge immer noch das Knistern von Seidenpapier darin. Das Licht im Weißton von Apfelblüten fiel auf einen Tisch mit einem Buch, einem Glas Fruchtsaft und silbernen Toilettenaccessoires, die glänzten wie die Instrumente in einem Chirurgenkoffer. Ihre Arme hatten die Farbe von Porzellan. Auf ihren Lippen schimmerte ein Hauch von rosa Lippenstift. Sie zeigte kein Anzeichen von Erschöpfung nach der Gesellschaft – kein Zeichen von Leben, das erschöpft werden könnte. Das Zimmer war wie von einem Dekorateur ausstaffiert, um eine Dame zu zeigen, die sich zum Schlafengehen bereit gemacht hatte und nicht mehr gestört werden wollte.
Er trug immer noch seine Abendgarderobe, seine Krawatte war lose, und eine Haarsträhne hing ihm ins Gesicht. Sie blickte ihn ohne Verwunderung an, als wüsste sie, was die vergangene Stunde in seinem Zimmer mit ihm gemacht hatte.
Er sah sie schweigend an. Er war schon lange Zeit nicht mehr in ihrem Zimmer gewesen. Er wünschte, er wäre auch dieses Mal nicht eingetreten.
„Ist es nicht üblich zu reden, Henry?“
„Wenn du möchtest.“
„Ich wünschte, du würdest einmal einen deiner hervorragenden Fachleute aus dem Stahlwerk zu uns herüberschicken, damit er sich den Ofen ansieht. Weißt du, dass er während der Gesellschaft ausgegangen ist und Simons Schwierigkeiten hatte, ihn wieder zum Laufen zu bringen? … Mrs. Weston sagt, unsere größte Errungenschaft sei unser Koch – sie war begeistert von den Horsd’œuvres. … Balph Eubank hat etwas Komisches über dich gesagt, er sagte, du seist ein Kreuzritter mit dem Rauch eines Fabrikschlotes als Federschmuck. … Ich bin froh, dass du Francisco d’Anconia auch nicht magst. Ich kann ihn nicht ausstehen.“
Er machte sich nicht die Mühe, seine Gegenwart zu erklären, seine Niederlage zu vertuschen oder sie einzugestehen, indem er wieder ging. Plötzlich war es ihm gleichgültig, was sie dachte oder fühlte. Er ging zum Fenster, blieb dort stehen und sah hinaus.
Warum hatte sie ihn geheiratet?, dachte er. Diese Frage hatte er sich an ihrem Hochzeitstag vor acht Jahren nicht gestellt. Seither jedoch hatte er es sich von Einsamkeit gequält viele Male gefragt. Er hatte keine Antwort gefunden.
Es war nicht wegen seiner Stellung, dachte er, oder wegen des Geldes. Sie stammte aus einer alten Familie, die beides hatte. Der Name ihrer Familie war nicht unter den allervornehmsten, und ihr Vermögen war bescheiden, aber beides reichte aus, um in den besten Kreisen der New Yorker Gesellschaft zu verkehren, wo er ihr begegnet war. Vor neun Jahren war er im hellen Schein des Erfolges von Rearden Steel, eines Erfolges, den die Fachleute der Stadt für unmöglich gehalten hatten, kometenhaft in New York aufgetaucht. Es war seine Gleichgültigkeit, die Aufsehen erregte. Er wusste nicht, dass man bereits auf seinen Versuch, sich seinen Weg in die Gesellschaft zu erkaufen, wartete und sich darauf freute, ihn zurückzuweisen. Er hatte keine Zeit, ihre Enttäuschung zu bemerken.
Widerwillig hatte er einigen gesellschaftlichen Ereignissen beigewohnt, zu denen er von Menschen eingeladen worden war, die seine Gunst gewinnen wollten. Er war sich dessen nicht bewusst, aber sie wussten, dass seine Höflichkeit Herablassung gegenüber den Menschen war, die damit gerechnet hatten, ihn vor den Kopf stoßen zu
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