Der Streik
zu machen schien. Beim Abendessen an jenem Tag hielt er um ihre Hand an.
Er brauchte nach seiner Hochzeit einige Zeit, bis er sich eingestand, dass seine Ehe eine Qual war. Er erinnerte sich immer noch an den Abend, an dem er es sich eingestand, als er sich sagte – die Venen an seinen Handgelenken traten hervor, als er neben dem Bett stand und auf Lillian herabblickte –, dass er die Qual verdient hatte und sie erdulden würde. Lillian sah ihn nicht an, sie machte ihr Haar zurecht. „Kann ich jetzt schlafen gehen?“, fragte sie.
Sie hatte sich nie widersetzt, sie hatte ihm niemals etwas verweigert, sie fügte sich immer, wenn er es wollte. Sie fügte sich, wie um der Regel gerecht zu werden, dass es von Zeit zu Zeit ihre Pflicht war, zu einem seelenlosen Gegenstand für den Gebrauch ihres Mannes zu werden.
Sie ließ ihm freie Hand. Sie machte auch klar, dass sie es als selbstverständlich erachtete, dass Männer niedere Triebe hatten, die den verborgenen, hässlichen Teil einer Ehe ausmachten. Sie war auf herablassende Weise nachsichtig. Mit amüsierter Abscheu belächelte sie die Heftigkeit seines Empfindens. „Es ist der würdeloseste Zeitvertreib, den ich kenne“, sagte sie ihm eines Tages, „aber ich habe mich nie der Illusion hingegeben, dass Männer den Tieren überlegen seien.“
Sein Verlangen nach ihr erlosch in der ersten Woche ihrer Ehe. Übrig blieb lediglich ein Bedürfnis, das er nicht in der Lage war abzutöten. Er hatte nie ein Bordell betreten, manchmal dachte er jedoch, dass der Abscheu, den er dort über sich empfinden würde, nicht schlimmer sein konnte als das, was er empfand, wenn es ihn in das Schlafzimmer seiner Frau trieb.
Oft fand er sie lesend vor. Sie legte das Buch mit einem weißen Band als Lesezeichen beiseite. Wenn er dann erschöpft neben ihr lag, mit geschlossenen Augen, noch immer nach Luft ringend, knipste sie das Licht an, nahm das Buch zur Hand und setzte ihre Lektüre fort.
Er sagte sich, dass er die Qual verdient habe, weil er sich vorgenommen hatte, sie nie wieder zu berühren, diesen Vorsatz jedoch nicht halten konnte. Er verachtete sich dafür. Er verachtete ein Bedürfnis, das nun keinen Funken Freude oder Bedeutung mehr enthielt, das zu dem bloßen Verlangen nach einem weiblichen Körper geworden war, einem anonymen Körper, der einer Frau gehörte, die er vergessen musste, während er ihren Körper umarmte. Er kam zu der Überzeugung, dass dieses Verlangen verdorben war.
Er verurteilte Lillian nicht. Er empfand einen trostlosen, gleichgültigen Respekt für sie. Der Hass auf sein eigenes Verlangen hatte ihn dazu gebracht, den Grundsatz zu akzeptieren, dass Frauen rein seien und eine reine Frau kein körperliches Vergnügen empfinden könne.
Während der Jahre des stillen Leidens in seiner Ehe war ihm ein Gedanke nie in den Sinn gekommen: der Gedanke an Untreue. Er hatte sein Wort gegeben. Und er beabsichtigte, es zu halten. Nicht aus Loyalität gegenüber Lillian, es war nicht Lillian, die er vor Schande schützen wollte, sondern seine Frau.
All das ging ihm durch den Kopf, als er jetzt am Fenster stand. Er hatte ihr Zimmer nicht betreten wollen. Er hatte sich dagegen gewehrt. Aber noch erbitterter hatte er gegen den speziellen Grund angekämpft, aus dem er an diesem Abend nicht würde widerstehen können. Dann, als er sie sah, hatte er plötzlich gewusst, dass er sie nicht anrühren würde. Der Grund, der ihn heute hergetrieben hatte, machte es ihm unmöglich.
Er stand regungslos da, bar jeglichen Verlangens, und fühlte die freudlose Erleichterung über die Gleichgültigkeit seinem Körper, diesem Zimmer, und sogar seiner Gegenwart in diesem Zimmer gegenüber. Er hatte sich von ihr abgewandt, um ihre oberflächliche Keuschheit nicht zu sehen. Er dachte, er sollte Respekt für sie empfinden; was er fühlte, war Ekel.
„… aber Dr. Pritchett hat gesagt, dass unsere Kultur stirbt, weil unsere Universitäten von den Almosen von Konservenfabrikanten, Stahlkochern und Getreideflockenherstellern abhängig sind.“
Warum hatte sie ihn geheiratet?, fragte er sich. Diese helle, lebhafte Stimme redete nicht drauflos. Sie wusste, warum er hergekommen war. Sie wusste, was in ihm vorging, wenn er sah, wie sie eine silberne Feile zur Hand nahm und vergnügt weitersprach, während sie ihre Fingernägel polierte. Sie sprach über die Gesellschaft. Aber sie erwähnte weder Bertram Scudder noch Dagny Taggart.
Was hatte sie mit ihrer Heirat bezweckt? Er spürte, dass
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