Der Streik
Stunde später fuhr sie zum Flughafen. Es war ein kleines Flugfeld am Fuße eines Einschnittes in der verlassenen Gebirgskette. Schneeflecken lagen auf der harten, zerfurchten Erde. Der Pfeiler eines Leuchtfeuers, dessen Kabel auf den Boden herabhingen, stand auf einer Seite des Feldes; die anderen Pfeiler waren von einem Sturm umgerissen worden.
Ein Aufseher kam allein auf sie zu. „Es tut mir leid, Miss Taggart“, sagte er bedauernd, „keine Flüge bis übermorgen. Es gibt nur einen transkontinentalen Flug alle zwei Tage, wissen Sie, und die Maschine, die heute starten sollte, ist notgelandet, unten in Arizona. Triebwerksprobleme, wie üblich.“ Dann fügte er hinzu: „Schade, dass Sie nicht ein wenig früher hier waren. Mr. Rearden ist gerade erst nach New York gestartet, in seinem Privatflugzeug.“
„Er ist aber nicht nach New York geflogen, oder?“
„Doch, doch. Das hat er gesagt.“
„Sind Sie sicher?“
„Er hat gesagt, dass er dort heute Abend einen Termin hat.“
Sie sah verständnislos nach Osten in den Himmel, ohne sich zu bewegen. Sie hatte keinerlei Erklärung dafür, keinen Anhaltspunkt, keine Möglichkeit, es einzuordnen, sich darüber zu empören oder es zu verstehen.
*
„Diese verdammten Straßen!“, sagte James Taggart. „Wir werden zu spät kommen.“
Dagny sah nach vorne, am Rücken des Fahrers vorbei. Durch den Halbkreis, den der Scheibenwischer auf der vereisten Windschutzscheibe freihielt, sah sie eine Reihe schwarzer verschlissener, nassglänzender Wagendächer. Weiter vorne markierten die verschwommenen Umrisse einer roten Leuchte in Bodennähe eine Baugrube.
„Auf jeder zweiten Straße ist etwas nicht in Ordnung“, sagte Taggart gereizt. „Warum repariert das denn niemand?“
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und zog den Kragen ihres Umhanges enger zusammen. Sie war erschöpft, denn der Tag, der hinter ihr lag, hatte bereits um sieben Uhr morgens am Schreibtisch in ihrem Büro begonnen. Sie hatte die Arbeit abbrechen müssen, um nach Hause zu eilen und sich umzuziehen, weil sie Jim versprochen hatte, bei einem Dinner des New Yorker Wirtschaftsrats zu sprechen. „Sie möchten, dass wir eine Rede über Rearden-Metall halten“, hatte er gesagt. „Du kannst das viel besser als ich. Es ist außerordentlich wichtig, dass wir ihnen überzeugende Argumente liefern. Es gibt so heftige Auseinandersetzungen über Rearden-Metall.“
Als sie neben ihm im Wagen saß, bereute sie bereits, dass sie zugesagt hatte. Sie sah hinaus auf die Straßen von New York und dachte an das Rennen zwischen Metall und Zeit, zwischen den Schienen der Rio-Norte-Linie und den dahinfliegenden Tagen. Sie hatte das Gefühl, als spannten sich ihre Nerven immer mehr an, weil der Wagen stillstand, weil sie einen Abend verschwendete, obwohl sie es sich nicht einmal leisten konnte, eine Stunde zu verschwenden.
„Bei all den Angriffen auf Rearden, von denen man überall hört“, sagte Taggart, „könnte er ein paar Freunde gut brauchen.“
Sie sah ihn ungläubig an. „Willst du damit sagen, du stellst dich auf seine Seite?“
Er antwortete nicht sofort, dann fragte er mit teilnahmsloser Stimme: „Dieser Bericht der Sonderkommission des Nationalen Rats der Metallindustrie – was hältst du davon?“
„Du weißt, was ich davon halte.“
„Sie haben gesagt, Rearden-Metall sei eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Sie haben gesagt, seine chemische Zusammensetzung sei unzuverlässig, es sei spröde, es löse sich in seine Moleküle auf und werde plötzlich, ohne Vorwarnung brechen …“ Er hielt inne, als bettelte er um eine Antwort. Sie erwiderte nichts. Verunsichert fragte er: „Du hast deine Meinung darüber doch nicht geändert, oder?“
„Worüber?“
„Über das Metall.“
„Nein, Jim. Ich habe meine Meinung nicht geändert.“
„Aber sie sind doch Experten … die Männer in dieser Kommission … führende Experten … leitende Metallurgen der bedeutendsten Unternehmen, mit einer ganzen Sammlung an Titeln von Universitäten aus dem ganzen Land. …“ Er klang unglücklich, als flehte er sie an, ihn an diesen Männern und deren Urteil zweifeln zu lassen.
Sie beobachtete ihn verwundert, denn das sah ihm nicht ähnlich.
Der Wagen fuhr mit einem Ruck weiter. Dann kroch er langsam durch eine Lücke in einer Holzabsperrung, vorbei an dem Loch einer geborstenen Hauptwasserleitung. Sie sah die neuen Rohre, die neben der Grube aufgestapelt waren. Sie trugen das
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