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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Kind, das man zum Schutz vor einem Schneesturm warm eingepackt hatte. Das luxuriöse Fell verwandelte die Unschuld des unförmigen Bündels seltsamerweise in die Eleganz seines beabsichtigten Gegenteils: in einen betont sinnlichen Anblick. Der Pelz war von einem warmen Braun, das von einem blauen Schimmer gedämpft wurde, den man nicht sehen, sondern nur fühlen konnte wie einen umhüllenden Nebel, wie einen Hauch von Farbe, den man nicht mit den Augen erfasste, sondern mit den Händen, als könnte man ohne ihn berührt zu haben spüren, wie es sich anfühlte, die Handflächen in dem weichen Pelz zu vergraben. Der Umhang ließ von ihr nichts sehen außer dem Braun ihres Haares, dem Blaugrau ihrer Augen und den Kurven ihres Mundes.
    Mit einem überraschten und hilflosen Lächeln drehte sie sich zu ihm um. „Ich … ich wusste nicht, dass es so aussehen würde.“
    „Ich wusste es.“
    Sie saß neben ihm in seinem Wagen, als er durch die finsteren Straßen der Stadt fuhr. Manchmal, wenn sie an den Laternen an den Straßenecken vorbeifuhren, war ein glitzernder Vorhang aus Schnee zu sehen. Sie fragte nicht, wohin sie fuhren. Sie war tief in ihren Sitz gesunken, lehnte sich zurück und sah hinauf in die Schneeflocken. Der Pelzumhang war fest um sie geschlungen; ihr Kleid fühlte sich darunter so leicht an wie ein Nachthemd, und die Berührung des Umhanges war wie eine Umarmung.
    Sie betrachtete die rechteckigen Lichtflächen, die durch den Schneevorhang leuchteten, und wenn sie ihn anblickte, den festen Griff seiner behandschuhten Hände am Lenkrad, die strenge, anspruchsvolle Eleganz der Gestalt im schwarzen Mantel und weißen Schal, dachte sie, dass er in die Großstadt gehörte, zwischen gepflegte Bürgersteige und behauenen Stein.
    Der Wagen fuhr hinab in einen Tunnel, raste durch eine widerhallende gekachelte Röhre unter dem Fluss und fuhr hinauf zu den Windungen einer Hochstraße unter einem offenen schwarzen Himmel. Die Lichter lagen nun unter ihnen in einer ausgedehnten Ebene voller bläulicher Fenster, Schornsteine, aufragender Kräne, roter Flammen und langer, schwacher Strahlen, die die verzerrten Formen eines Industriegebiets umrissen. Sie dachte daran, dass sie ihn schon einmal in seinem Stahlwerk gesehen hatte, mit Rußspuren auf der Stirn, in einem säurezerfressenen Overall, den er ebenso natürlich trug wie seine Abendgarderobe. Er gehörte auch hierhin, dachte sie, als sie in die Ebenen von New Jersey blickte, zwischen die Kräne, das Feuer und das mahlende Gerassel von Maschinen.
    Als sie eine dunkle Straße hinunter durch die offene Landschaft sausten, während Streifen von Schnee in den Lichtkegeln der Scheinwerfer glitzerten, erinnerte sie sich daran, wie er im Sommer während ihres gemeinsamen Urlaubs ausgesehen hatte, als er in Freizeithosen ausgestreckt auf dem Boden einer einsamen Schlucht lag, mit dem Gras unter seinem Körper und der Sonne auf der Haut. Er gehörte aufs Land, dachte sie, er gehörte überall hin, er war ein Mann, der auf die Erde gehörte – und dann dachte sie an eine Beschreibung, die genauer zutraf: Er war ein Mann, dem die Erde gehörte, der Mann, der auf der Erde und im Herrschen zu Hause war. Aber warum, dachte sie, musste er dann eine traurige Last tragen, die er in stiller Geduld so vollständig akzeptiert hatte, dass er kaum noch wahrnahm, dass er sie trug? Sie kannte einen Teil der Antwort; sie hatte das Gefühl, als wäre die gesamte Antwort zum Greifen nahe und als würde sie eines nicht allzu fernen Tages dahinterkommen. Aber sie wollte jetzt nicht daran denken, weil sie sich von diesen Lasten wegbewegten, weil sie im Inneren eines fahrenden Wagens die Stille des vollständigen Glücks besaßen. Unmerklich bewegte sie den Kopf, sodass er einen Augenblick lang seine Schulter berührte.
    Der Wagen verließ die Schnellstraße und fuhr auf die erleuchteten Vierecke entfernter Fenster zu, die hinter einem Gitter aus kahlen Zweigen über dem Schnee schwebten. Dann saßen sie in warmem, gedämpftem Licht an einem Tisch am Fenster mit Blick auf die Bäume und die Finsternis. Das Gasthaus stand auf einer Kuppe im Wald; es bot den teuren Luxus der Ungestörtheit und war geschmackvoll eingerichtet, was darauf schließen ließ, dass es noch nicht von jenen entdeckt worden war, die hohe Preise und Aufmerksamkeit suchten. Sie nahm den Speiseraum kaum wahr, verspürte nur ein außerordentliches Behagen, und die einzige Dekoration, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war

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