Der Streik
Gegenwart einer fremden Frau in seinem Schlafzimmer auszuziehen, und so vergaß er es gleich wieder.
Lillian trat heraus, ebenso sorgfältig herausgeputzt wie bei ihrer Ankunft. Das perfekt sitzende beige Reisekostüm umschloss eng ihren Körper, ihr Hut saß schräg auf ihrem in Wellen gelegten Haar. Sie trug ihren Koffer in der Hand und schwang ihn ein wenig, wie um zu zeigen, dass sie in der Lage war, ihn alleine zu tragen.
Mechanisch streckte er den Arm aus und nahm ihr den Koffer aus der Hand.
„Was tust du?“, fragte sie.
„Ich bringe dich zum Bahnhof.“
„In diesem Aufzug? Du hast dich noch nicht umgezogen.“
„Das macht nichts.“
„Du musst mich nicht begleiten. Ich finde mich gut alleine zurecht. Wenn du morgen Geschäftstermine hast, solltest du lieber zu Bett gehen.“
Er antwortete nicht, sondern ging zur Tür, hielt sie ihr auf und folgte ihr zum Aufzug.
Während der Taxifahrt zum Bahnhof schwiegen sie. In Momenten wie diesem, in denen er sich ihrer Gegenwart bewusst wurde, bemerkte er, dass sie kerzengerade saß, fast als wollte sie mit ihrer vollendeten Haltung prahlen. Sie wirkte hellwach, aufmerksam und zufrieden, als bräche sie frühmorgens zu einer wichtigen Reise auf.
Das Taxi hielt am Eingang des Taggart Terminals. Die hellen Lichter, die über das große Glasportal fluteten, vermittelten trotz der späten Stunde den Eindruck geschäftiger, zeitloser Sicherheit. Lillian sprang leichtfüßig aus dem Wagen und sagte: „Nein, nein, du musst nicht aussteigen. Fahr zurück. Wirst du morgen zum Abendessen zu Hause sein – oder nächsten Monat?“
„Ich rufe dich an“, sagte er.
Sie winkte ihm mit ihrer behandschuhten Hand zu und verschwand im Licht des Einganges. Als das Taxi sich in Bewegung setzte, gab er dem Fahrer die Adresse von Dagnys Wohnung.
Die Wohnung war dunkel, als er eintrat, aber die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, und er hörte ihre Stimme sagen: „Hallo, Hank.“
Er ging hinein und fragte: „Hast du geschlafen?“
„Nein.“
Er knipste das Licht an. Sie lag im Bett, den Kopf auf ein Kissen gestützt, ihr Haar fiel weich über ihre Schultern, als hätte sie sich lange Zeit nicht bewegt, aber ihr Gesicht war ruhig und gelassen. Mit dem Kragen ihres maßgeschneiderten hellblauen Nachthemdes, der streng an ihrem Halsansatz anlag, sah sie aus wie ein Schulmädchen, doch das Vorderteil des Nachthemdes mit seiner hellblauen Stickerei stand in bewusstem Gegensatz zu dieser Strenge und wirkte luxuriös und feminin.
Er setzte sich auf die Bettkante, und sie lächelte, als sie bemerkte, wie die ernste Eleganz seiner Abendgarderobe dieser Geste eine schlichte, natürliche Vertrautheit verlieh. Er erwiderte ihr Lächeln. Er war gekommen, um die Vergebung, die sie ihm bei der Gesellschaft gewährt hatte, zurückzuweisen, wie man eine Gefälligkeit eines zu großzügigen Gegners ausschlägt. Stattdessen streckte er mit einem Mal die Hand aus und strich damit über ihre Stirn und ihr Haar. Es war eine beschützende, zärtliche Geste, er hatte plötzlich gespürt, wie zerbrechlich und kindlich sie war – diese Gegnerin, die der ständigen Herausforderung seiner Stärke standgehalten hatte, stattdessen jedoch seines Schutzes bedurft hätte.
„Du hast so viele Lasten zu tragen“, sagte er, „und ich mache es dir noch schwerer …“
„Nein, Hank, das tust du nicht, und das weißt du auch.“
„Ich weiß, dass du stark genug bist, dich davon nicht verletzen zu lassen, aber ich habe kein Recht, diese Stärke in Anspruch zu nehmen. Und doch tue ich es, und ich habe keine andere Lösung, keine Sühne anzubieten. Ich kann lediglich zugeben, dass ich es weiß und dass es keine angemessene Art gibt, dich um Vergebung zu bitten.“
„Es gibt nichts zu vergeben.“
„Ich hatte kein Recht, mit ihr in deiner Gegenwart aufzutauchen.“
„Es hat mich nicht verletzt. Es war nur …“
„Was?“
„Es war nur hart, dich leiden zu sehen.“
„Ich glaube nicht daran, dass Leiden irgendetwas wiedergutmacht, aber was auch immer es war, das ich fühlte, ich habe nicht genug gelitten. Wenn ich etwas hasse, dann ist es, über mein eigenes Leid zu sprechen – das sollte allein meine Sorge sein. Aber wenn du es wissen willst und da du es ohnehin schon weißt – ja, es war die Hölle für mich. Und ich wünschte, es wäre noch schlimmer gewesen. Zumindest lasse ich es mir nicht einfach durchgehen.“
Er sagte es ernst und ohne jede Gefühlsregung, wie ein
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