Der Streik
eine Stunde verbringen oder eine Handlung ausführen, die weniger bedeutete als das.
Sie sah ihn an, genau in dem Moment, als er sich zu ihr umwandte. Sie standen jetzt dicht beieinander. In seinen Augen konnte sie sehen, dass er genauso empfand wie sie. Wenn Freude das Ziel und der Mittelpunkt der Existenz ist, dachte sie, und wenn das, was die Macht hat, uns Freude zu schenken, immer als eines Menschen intimstes Geheimnis gehütet wird, dann hatten sie einander in diesem Augenblick nackt gesehen.
Er trat einen Schritt zurück und sagte in einem seltsamen Ton leidenschaftslosen Erstaunens: „Wir sind zwei gemeine Schufte, nicht wahr?“
„Wieso?“
„Wir haben keinerlei spirituelle Ziele oder Eigenschaften. Alles, wonach wir streben, ist materieller Natur. Das ist alles, was uns interessiert.“
Sie sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. Doch er sah an ihr vorbei, geradeaus, wo in der Ferne der Kran stand. Sie wünschte, er hätte es nicht gesagt. Die Anschuldigung kümmerte sie nicht, sie hatte sich nie so gesehen und war nicht imstande, ein Gefühl von grundsätzlicher Schuld zu empfinden. Doch sie fühlte eine unbestimmte Besorgnis, die sie nicht genau erklären konnte, eine Eingebung, dass der Grund für seine Anmerkung, was auch immer es war, schwerwiegende Konsequenzen haben und ihm gefährlich werden könnte. Er hatte es nicht beiläufig gesagt. Doch in seiner Stimme war kein Gefühl gewesen, weder Reue noch Scham. Er hatte es voller Gleichgültigkeit gesagt, als Feststellung einer Tatsache.
Während sie ihn betrachtete, verschwand die Besorgnis. Er besah sein Stahlwerk draußen vor dem Fenster. In seiner Miene fand sich keine Schuld, kein Zweifel, nichts als die Gelassenheit einer ungebrochenen Selbstsicherheit.
„Dagny“, sagte er, „was auch immer wir sind, wir sind es, die die Welt bewegen, und wir werden es sein, die sie retten.“
V. Der Zenit der d’Anconias
D ie Zeitung war das Erste, was ihr auffiel. Eddie hielt sie fest umklammert, als er in ihr Büro trat. Sie blickte auf, in sein Gesicht: Es war angespannt und verwirrt.
„Dagny, bist du sehr beschäftigt?“
„Warum?“
„Ich weiß, dass du nicht gerne über ihn sprichst, aber hier ist etwas, von dem ich glaube, dass du es sehen solltest.“
Wortlos streckte sie ihre Hand nach der Zeitung aus.
Der Artikel auf der Titelseite berichtete, dass die Regierung des Volksstaates Mexiko bei der Übernahme der San-Sebastián-Minen entdeckt hatte, dass sie wertlos waren – offenkundig, vollständig und definitiv wertlos. Es gab dort nichts, was fünf Jahre Arbeit und die investierten Millionen gerechtfertigt hätte. Nichts als ordentlich in den Stein gehauene leere Stollen. Die wenigen Kupferspuren waren den Aufwand, sie zu fördern, nicht wert. Es existierten keine großen Metallvorkommen, und es würde niemals welche geben. Es gab auch keine Anzeichen dafür, die jemanden zu dieser Annahme hätten verleitet haben können. Die Regierung des Volksstaates Mexiko hielt Krisensitzungen über diese Enthüllung ab, die einen Aufschrei der Entrüstung hervorgerufen hatte. Man fühlte, dass man betrogen worden war.
Eddie, der Dagny beobachtete, wusste, dass sie die Zeitung noch lange ansah, obwohl sie den Artikel schon längst zu Ende gelesen hatte. Er wusste, dass er zu Recht etwas Angst gehabt hatte, obwohl er nicht sagen konnte, was ihn an dieser Geschichte erschreckte.
Er wartete ab. Sie hob den Kopf, aber sie sah ihn nicht an. Ihre Augen waren starr und blickten gespannt und konzentriert, als versuchte sie, etwas in großer Entfernung zu erkennen.
Er sagte mit gedämpfter Stimme: „Francisco ist kein Dummkopf. Er mag alles andere sein, egal wie weit er gesunken ist – und ich habe aufgehört, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wieso –, aber er ist nicht dumm. Ein Fehler dieses Ausmaßes wäre ihm nicht passiert. Es ist unmöglich. Ich verstehe es nicht.“
„Ich fange an, es zu verstehen.“
Sie setzte sich aufrecht hin, nachdem ein plötzlicher Ruck wie ein Schauer durch ihren Körper gefahren war. Sie sagte: „Ruf ihn im Wayne-Falkland an und sag dem Mistkerl, dass ich ihn sehen will.“
„Dagny“, sagte er traurig und vorwurfsvoll, „es ist Frisco d’Anconia.“
„Es war Frisco d’Anconia.“
*
Sie ging in der beginnenden Dämmerung durch die Straßen der Stadt in Richtung Hotel Wayne-Falkland. „Er sagt, wann immer du möchtest“, hatte Eddie ihr ausgerichtet. In ein paar Fenstern, hoch oben unter den Wolken,
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