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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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bist du um diese Zeit auf?“, fragte sie.
    „Mir war nicht nach Schlafen.“
    „Wie bist du hergekommen? Ich habe deinen Wagen nicht gehört.“
    „Ich bin zu Fuß gekommen.“
    Erst einige Augenblicke später wurde ihr bewusst, dass sie ihn nicht danach gefragt hatte, warum er gekommen war, und dass sie ihn gar nicht fragen wollte.
    Er schlenderte durch den Raum, besah die Bündel von Frachtbriefen, die an den Wänden hingen, und einen Kalender mit einem Bild des Taggart Comet, wie er sich in stolzer Fahrt auf den Betrachter zuschob. Francisco schien sich hier wie zu Hause zu fühlen, als hätte er das Gefühl, dieser Ort gehörte ihnen, so wie sie sich immer fühlten, ganz gleich, wo sie gemeinsam waren. Doch er schien nicht reden zu wollen. Er stellte ein paar Fragen zu ihrer Arbeit, dann schwieg er.
    Mit zunehmendem Tageslicht nahm auch die Geschäftigkeit draußen auf der Strecke zu, und das Telefon begann, die Stille zu durchbrechen. Sie widmete sich wieder ihrer Arbeit. Er saß in einer Ecke, ein Bein über die Lehne seines Stuhles gelegt, und wartete.
    Sie arbeitete flink, mit einem außergewöhnlich klaren Kopf. Die schnelle Präzision ihrer Handbewegungen gefiel ihr. Sie konzentrierte sich auf das schrille, helle Läuten des Telefons und auf die Ziffern von Zugnummern, Wagennummern, Bestellnummern. Sie nahm nichts anderes wahr.
    Aber als ein dünnes Blatt Papier auf den Boden flatterte und sie sich hinunterbeugte, um es aufzuheben, war sie sich plötzlich sowohl dieses speziellen Augenblicks als auch ihrer selbst und ihrer Bewegungen klar bewusst. Sie sah ihren grauen Leinenrock, den hochgekrempelten Ärmel ihrer grauen Bluse und ihren bloßen Arm, wie er nach dem Papier griff. Sie fühlte, wie ohne Grund ihr Herz aufhörte zu schlagen, als hielte es in einem Augenblick erwartungsvoller Spannung den Atem an. Sie nahm das Papier und richtete sich wieder auf.
    Es war nun fast hell. Ein Zug fuhr ohne anzuhalten durch den Bahnhof. Im klaren Morgenlicht verschmolz die lange Reihe von Wagendächern zu einer silbernen Linie, und der Zug schien ohne Bodenkontakt vorbeizuschweben. Der Fußboden des Bahnhofs bebte, und in den Fenstern klirrten die Scheiben. Sie betrachtete das Dahinsausen des Zuges mit einem aufgeregten Lächeln. Sie blickte zu Francisco: Er sah sie mit dem gleichen Lächeln an.
    Als der Betriebsbeamte der Tagschicht kam, übergab sie ihm den Bahnhof, und sie traten hinaus in die Morgenluft. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch an ihrer Stelle schien die Luft zu strahlen. Sie fühlte sich nicht müde. Sie fühlte sich, als wäre sie eben aufgestanden.
    Sie ging auf ihren Wagen zu, aber Francisco sagte: „Lass uns zu Fuß heimgehen. Wir holen den Wagen später.“
    „Einverstanden.“
    Sie war nicht erstaunt, und die Vorstellung, fünf Meilen zu laufen, machte ihr nichts aus. Es schien ihr ganz natürlich in der besonderen Realität dieses Augenblicks, die so deutlich und klar war, jedoch von allem abgeschnitten, die unmittelbar war, aber losgelöst wie eine helle Insel in einer Nebelwand – die gesteigerte, bedingungslose Realität, die man im Rausch empfindet.
    Der Weg führte durch den Wald. Sie verließen die Schnellstraße und bogen in einen alten Pfad ein, der sich über Meilen unangetasteter Natur durch die Bäume schlängelte. Um sie herum gab es keine Spuren menschlichen Lebens. Verwitterte Wagenspuren, die mit Gras überwachsen waren, ließen die Gegenwart von Menschen noch entfernter erscheinen, indem sie zur räumlichen Entfernung von Meilen die zeitliche von Jahren hinzufügten. Morgennebel lag noch über dem Boden, doch zwischen den Baumstämmen hingen Blätter wie Flecken aus leuchtendem Grün, das den Wald zu erhellen schien. Die Blätter bewegten sich nicht. Sie gingen allein durch eine regungslose Welt. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie lange Zeit kein Wort gesprochen hatten.
    Sie erreichten eine Lichtung. Sie lag in einer kleinen Senke am Grunde einer Schlucht, die von steil aufragenden Felshängen begrenzt wurde. Ein Wasserlauf bahnte sich seinen Weg durch das Gras, und Zweige von Bäumen hingen zur Erde herab wie ein grüner fließender Vorhang. Das Geräusch des Wassers verstärkte die Stille. Der weit entfernte Streifen offenen Himmels ließ den Ort noch verborgener erscheinen. Ganz oben, am höchsten Punkt eines Hügels, fing ein Baum die ersten Sonnenstrahlen ein.
    Sie blieben stehen und sahen sich an. Sie begriff erst als er es tat, dass sie gewusst

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