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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Notfalls – nur in ihrem mechanischen Beharren schwang ein sonderbarer Widerhall von Angst mit.
    „Was ist los, Mutter?“
    „Am Telefon kann ich nicht darüber sprechen. Ich muss dich sehen.“
    „Falls du dann in mein Büro kommen möchtest …“
    „Nein! Nicht im Büro! Ich muss dich allein sehen, wo wir reden können. Kannst du nicht heute herkommen, um mir einen Gefallen zu tun? Deine Mutter bittet dich um einen Gefallen. Du besuchst uns nie. Und vielleicht kann man dir das nicht einmal vorwerfen. Aber kannst du es nicht dieses eine Mal für mich tun, wenn ich dich darum bitte?“
    „In Ordnung, Mutter. Ich werde um vier Uhr heute Nachmittag da sein.“
    „Das ist schön, Henry. Danke, Henry. Das ist schön.“
    Im Stahlwerk schien ihm an diesem Tag eine gewisse Spannung in der Luft zu liegen. Der Eindruck war zu schwach, um ihn näher zu bestimmen, doch für ihn war das Stahlwerk wie das Gesicht einer geliebten Ehefrau, in dem er Stimmungsnuancen erkennen konnte, beinahe bevor sie tatsächlich zum Ausdruck kamen. Er bemerkte Grüppchen neuer Arbeiter, die immer nur zu dritt oder viert zusammenstanden und sich unterhielten – ein oder zwei Mal zu oft. Ihm fiel auf, dass ihr Verhalten eher an einen Spielsalon denken ließ als an eine Fabrik. Ihm fielen Blicke auf, die ihm zugeworfen wurden, als er vorüberging, Blicke, die eine Spur zu ostentativ waren und zu lange währten. Er tat es ab; es war nicht genug, um sich darüber zu wundern – und er hatte auch gar keine Zeit, sich zu wundern.
    Als er an diesem Nachmittag zu dem Haus fuhr, in dem er einst gewohnt hatte, hielt er unvermittelt am Fuß des Hügels an. Er hatte das Haus nicht mehr gesehen, seit er am 15. Mai – sechs Monate zuvor – ausgezogen war, und der Anblick erinnerte ihn mit einem Schlag an alles, was er zehn Jahre lang täglich bei der Heimkehr empfunden hatte: die Anspannung, die Verwirrung, das graue Gewicht uneingestandenen Unglücklichseins, sein strenges Pflichtgefühl, das ihm verboten hatte, es einzugestehen, sein unschuldiges, verzweifeltes Bemühen darum, seine Familie zu verstehen … den Wunsch, gerecht zu sein.
    Langsam ging er über den Weg zur Haustür. Er verspürte nichts außer einer großen, feierlichen Klarheit. Er wusste, dass sein Haus ein Denkmal der Schuld war – seiner Schuld sich selbst gegenüber.
    Er hatte damit gerechnet, außer seiner Mutter auch Philip anzutreffen; mit der dritten Person, die sich wie die anderen beiden erhob, als er ins Wohnzimmer trat, hatte er nicht gerechnet: Lillian.
    Er verharrte an der Schwelle. Sie standen da und betrachteten sein Gesicht mit der offenen Tür dahinter. In ihren Mienen mischte sich Angst mit Gerissenheit. Es war der Ausdruck, den er als Erpressung durch Tugend zu interpretieren gelernt hatte – als hofften sie, ihn allein durch sein Mitgefühl festhalten zu können, obwohl doch schon ein einziger Schritt zurück ihn aus ihrer Reichweite tragen konnte.
    Sie hatten auf sein Mitgefühl gezählt und seinen Zorn gefürchtet; eine dritte Möglichkeit hatten sie nicht gewagt, in Betracht zu ziehen: seine Gleichgültigkeit.
    „Was tut sie hier?“, fragte er mit leidenschaftslos nüchterner Stimme und wandte sich an seine Mutter.
    „Lillian lebt seit eurer Scheidung hier“, antwortete sie defensiv. „Ich konnte sie doch nicht auf der Straße verhungern lassen, oder?“
    Der Blick seiner Mutter war halb bittend, als würde sie ihn anflehen, sie nicht ins Gesicht zu schlagen, und halb triumphierend, als hätte sie ihn ihrerseits gerade geschlagen. Er kannte ihren Beweggrund: Es war nicht Mitleid – es hatte nie viel Zuneigung zwischen Lillian und ihr gegeben –, sondern die gemeinsame Rache an ihm, die stille Befriedigung darüber, sein Geld für die Exfrau auszugeben, die zu unterhalten er sich geweigert hatte.
    Lillian hatte den Kopf zur Begrüßung geneigt, und auf ihren Lippen lag der Anflug eines Lächelns, halb zaghaft, halb unverfroren. Er gab nicht vor, sie zu ignorieren; er sah sie an, als sähe er sie voll und ganz, doch zugleich so, als erfasste sein Verstand keine Gegenwart. Er sagte nichts, trat ins Zimmer und schloss die Tür.
    Seine Mutter seufzte leise erleichtert, aber doch unbehaglich und ließ sich hastig auf den nächsten Stuhl sinken, von wo aus sie ihn nervös beobachtete, unsicher, ob er ihrem Beispiel folgen würde.
    „Was wolltest du von mir?“, fragte er und setzte sich.
    Seine Mutter saß aufrecht und zugleich eigenartig gekrümmt da, die

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