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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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schoss an einer Stelle empor, an der kein Feuer sein durfte: aus einem Gebäude am Tor des Haupteingangs.
    Im nächsten Augenblick hörte er das trockene Knallen eines Schusses, dann drei Antwortschüsse in schneller Folge, wie eine zornige Hand, die einen plötzlichen Angreifer schlägt.
    Dann nahm die schwarze Masse, welche die Straße in der Ferne versperrte, Gestalt an. Das war nicht einfach Dunkelheit, und es wich auch nicht zurück, als er sich näherte – es war eine Meute, die am Haupttor hin und her wogte und versuchte, das Stahlwerk zu stürmen.
    Er hatte Zeit für einen längeren Blick und sah wedelnde Arme, manche mit Keulen, andere mit Brechstangen, einige mit Gewehren bewaffnet, außerdem die gelben Flammen brennenden Holzes, die aus dem Fenster der Pförtnerloge loderten, das Gewehrfeuer, das blau aus der Meute aufzüngelte und vom Dach des Gebäudes erwidert wurde; er sah eine menschliche Gestalt, die gekrümmt vom Dach eines Autos nach hinten fiel, und dann ging er mit quietschenden Reifen in die Kurve und bog in eine dunkle Nebenstraße ab.
    Mit sechzig Meilen pro Stunde fuhr er auf einer tief zerfurchten, ungepflasterten Straße in Richtung Osttor, und als das Tor gerade in Sicht kam, fuhr der Wagen in ein Schlagloch, kam von der Straße ab und steuerte auf den Rand einer Schlucht zu, auf deren Grund ein uralter Schlackehaufen lag. Mit dem Gewicht seiner Brust und seines Ellbogens auf dem Lenkrad stemmte er sich gegen zwei Tonnen rasenden Stahls und zwang den Wagen, sich der Kontrolle seiner Hände zu beugen und mit quietschenden Reifen zurück auf die Straße zu fahren. Das alles hatte nur einen Augenblick gedauert, und schon im nächsten Augenblick trat er auf die Bremse und stellte den Motor ab. Denn als die Scheinwerfer über die Schlucht gefegt waren, hatte er eine längliche Gestalt erblickt, dunkler als das Grau der Pflanzen am Abhang, und gemeint, flüchtig einen weißen Fleck zu sehen, eine menschliche Hand, die um Hilfe winkte.
    Er zog den Mantel aus und eilte den Hang hinab; Erdklumpen gaben unter seinen Füßen nach, und er hielt sich an trockenem Gestrüpp fest, während er auf die schwarze Gestalt, die er nun eindeutig als menschlichen Körper erkannte, halb zurannte, halb zurutschte. Ein Wattebausch schwebte vor dem Mond, er sah das Weiß einer Hand und einen Arm, der ausgestreckt im Unkraut ruhte, doch der Körper lag völlig reglos da.
    „Mr. Rearden …“
    Es war ein Flüstern, das darum rang, ein Schrei zu werden, es war das furchtbare Geräusch einer Stimme, die über ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht hinauskam.
    Er wusste nicht, was zuerst kam, denn es fühlte sich an wie ein einziger Schock: der Gedanke, dass diese Stimme vertraut klang, der Mondstrahl, der durch den Wattebausch drang, das Niederknien neben dem weißen Oval des Gesichts und die Erkenntnis: Es war das Kindermädchen.
    Er spürte, wie die Hand des Jungen die seine mit der unnatürlichen Kraft des Sterbenden packte, und zugleich fielen ihm das gequälte Gesicht, die blutleeren Lippen, die glasigen Augen, das schmale, dunkle Rinnsal auf, das aus einem kleinen schwarzen Loch an einer ganz falschen, dem Herzen allzu nahen Stelle auf der linken Seite der Brust des Jungen sickerte.
    „Mr. Rearden … Ich wollte sie aufhalten … ich wollte Sie retten …“
    „Was ist Ihnen zugestoßen, Junge?“
    „Sie haben auf mich geschossen, damit ich nichts verrate … ich wollte verhindern“ – seine Hand tastete sich auf das rote Glühen am Himmel zu –, „was sie tun … Ich bin zu spät gekommen, aber ich habe es versucht … Ich habe es versucht … Und … ich kann immer noch … reden … Hören Sie, sie …“
    „Sie brauchen Hilfe. Ich bringe Sie ins Krankenhaus und …“
    „Nein! Warten Sie! Ich … ich glaube, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und … und ich muss Ihnen erzählen … Hören Sie, dieser Aufstand … der ist inszeniert … auf Anweisung aus Washington … Das sind nicht die Arbeiter … nicht Ihre Arbeiter … das sind diese neuen Jungs, und … und draußen eine Menge bezahlter Schläger … Glauben Sie kein Wort von dem, was sie Ihnen sagen werden … Das ist ein abgekartetes Spiel … es ist deren mieses abgekartetes Spiel …“
    In der Miene des jungen Mannes lag eine verzweifelte Leidenschaft, die Leidenschaft eines Mannes, der sich auf einem Kreuzzug befindet. Irgendein Treibstoff schien schubartig in ihm zu verbrennen und seiner Stimme einen Anflug von Lebendigkeit zu verleihen

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