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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Formeln aus der Zahlenmystik berechnete.
    Er hatte sich gesagt, dass es eine gefährliche Angelegenheit sei. Aber auch das lauteste Schreien des hysterischsten Leitartikels konnte in ihm keine Unruhe auslösen – während ihn die Veränderung einer Dezimalstelle in einem Testbericht über Rearden-Metall vor Begeisterung oder Sorge aufspringen ließ. Für andere Dinge hatte er keine Kraft übrig.
    Er zerknüllte den Leitartikel und warf ihn in den Papierkorb. Er fühlte, wie sich diese bleierne Erschöpfung breitmachte, die er bei seiner Arbeit nie empfand, eine Erschöpfung, die auf ihn zu warten schien und ihn in dem Augenblick erwischte, in dem er sich mit anderen Dingen beschäftigte. Es war ihm, als wäre er keines anderen Wunsches mehr fähig, als verlangte ihn nur noch verzweifelt nach Schlaf.
    Er sagte sich, dass er zu dieser Gesellschaft gehen müsse; dass seine Familie das Recht habe, das von ihm zu erwarten; dass er lernen müsse, an ihrer Art des Vergnügens Gefallen zu finden, ihretwillen, nicht seinetwillen.
    Er fragte sich, warum dieser Beweggrund nicht stark genug war, um ihn anzuspornen. In seinem ganzen Leben hatte er immer, wenn er davon überzeugt war, dass ein Weg der Richtige war, ganz automatisch den Drang verspürt, ihn einzuschlagen. Was geschah mit ihm?, fragte er sich. Der kaum zu lösende Widerspruch, dass ihm widerstrebte, das zu tun, was richtig war – war das nicht das Grundschema moralischer Korruption? Die eigene Schuld zu erkennen, doch nichts zu fühlen außer eisiger, zutiefst empfundener Gleichgültigkeit – war das nicht ein Betrug an dem, was immer der Motor seiner Karriere und seines Stolzes gewesen war?
    Er ließ sich keine Zeit, nach einer Antwort zu suchen. Er zog sich schnell und energisch fertig an.
    In aufrechter Haltung, mit der lockeren, gelassenen Selbstsicherheit eines Mannes, der sich seiner Autorität gewiss ist, ein feines weißes Taschentuch in der Brusttasche seines schwarzen Smokings, schritt er langsam die Treppe zum Salon hinunter. Zur Genugtuung all der reichen Witwen, die ihn beobachteten, sah er wie die perfekte Verkörperung eines großen Industriellen aus.
    Er erblickte Lillian, die am Fuße der Treppe stand. Die edlen Konturen eines zitronengelben Abendkleides im Empirestil unterstrichen ihre anmutige Figur. Sie stand stolz da wie jemand, der die passende Umgebung für sich gefunden hat. Er lächelte. Er war froh, sie glücklich zu sehen, das verlieh der Gesellschaft eine gewisse Berechtigung.
    Er ging auf sie zu – und blieb plötzlich stehen. Sie hatte bei der Wahl ihres Schmucks stets guten Geschmack bewiesen, nie trug sie zu viel davon. Aber an diesem Abend stellte sie ihn demonstrativ zur Schau: ein Diamantcollier, Ohrringe, Ringe und Broschen. Im Gegensatz dazu wirkten ihre Arme auffällig leer. An ihrem rechten Handgelenk trug sie als einzige Zierde das Armband aus Rearden-Metall. Im Vergleich zu den glitzernden Steinen sah es aus wie hässlicher, billiger Schmuck aus dem Zehncentladen.
    Als er von ihrem Handgelenk zu ihrem Gesicht blickte, bemerkte er, dass sie ihn ansah. Ihre Augen waren schmal, und er konnte ihren Ausdruck nicht genau bestimmen. Es war ein Blick, der verschleiert und gleichzeitig entschlossen war, ein Blick, in dem sich etwas verbarg, das sich vor Entdeckung sicher wusste.
    Er hätte ihr das Armband am liebsten vom Handgelenk gerissen. Stattdessen verbeugte er sich höflich und mit ausdruckslosem Gesicht, als sie ihn mit heiterer Stimme einer würdevollen älteren Dame vorstellte, die neben ihr stand.
    „Der Mensch? Was ist der Mensch? Er ist nichts als eine Ansammlung von Chemikalien mit dem Wahn, etwas Großartiges zu sein“, sagte Dr. Pritchett am anderen Ende des Raumes zu einer Gruppe von Gästen.
    Dr. Pritchett nahm ein Kanapee von einem Kristallteller, hielt es zwischen zwei gestreckten Fingern und schob es im Ganzen in den Mund.
    „Die metaphysischen Anmaßungen des Menschen“, sagte er, „sind lächerlich. Ein erbärmliches bisschen Protoplasma, voller hässlicher kleiner Gedanken und gemeiner, belangloser Emotionen – und es hält sich für bedeutend! Wirklich, glauben Sie mir, das ist die Wurzel allen Übels in der Welt.“
    „Aber welche Gedanken sind nicht hässlich oder gemein, Professor?“, fragte eine ernste ältere Dame, deren Ehemann eine Automobilfabrik besaß.
    „Keine“, sagte Dr. Pritchett, „keine innerhalb des Spektrums der menschlichen Fähigkeiten.“
    Ein junger Mann fragte zögernd:

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