Der stumme Handlungsreisende
Ich hielt inne, horchte, setzte die Orangensaftflasche ab und
stürzte die acht gewaltigen Stufen von meinem Wohnzimmerstuhl zu
meiner Bürotür hinauf. Ich hob sie an und zog. Sie flog auf.
»Hallo«, sagte
ich mit meinem besten Lächeln.
Eine Frau mittleren Alters
mit einem langen, braunen Regenmantel war schon wieder auf halbem Wege die
Treppe hinunter. Sie drehte sich um und sah mich an.
»Kann ich Ihnen helfen,
Ma’am?«
Sie sagte: »Ich…
ich… ich…« Dann lief sie die Treppe hinab und raus auf
die Straße. So eine Zeitungsannonce bringt’s eben.
Ich ging schließlich
gleichfalls die Treppe hinunter, aber nicht, um sie zu verfolgen. Mir war
ein Brief in dem Drahtkorb aufgefallen, in dem die Dinge landen, die durch
meinen Postschlitz geworfen werden. Für gewöhnlich war ich nicht
besonders erpicht auf meine Post, aber der Brief letzte Woche war von
meiner Tochter gewesen. Ich hatte sie seit zwölf Jahren nicht mehr
gesehen, und sie hatte mir mitgeteilt, daß sie mich vielleicht
besuchen würde. Ihre Mama und ihr reicher
neuer Daddy verbrachten den Sommer in Connecticut, was schließlich
beinahe nebenan war. Noch am Fuße der Treppe riß ich den
Briefumschlag auf.
Es war ein Kündigungsschreiben
von meinem Vermieter.
Sie wollten das Gebäude
abreißen, um Büros zu bauen. Das schien nicht fair zu sein,
wenn man bedachte, daß mir dasselbe schon mal passiert war. Dort, wo
früher mein Büro gewesen war, in dem ich zehn Jahre verbracht
hatte, stand nun ein mehrstöckiges Parkhaus.
Aber Indianapolis ist eben
diese Art Stadt, eine Stadt, die in den Himmel schießt ohne Rücksicht
auf Gestriges. Und Sanierung ist etwas, wogegen man sich nur mit viel Geld
impfen lassen kann. Ich mußte bis Mitte Oktober geräumt haben.
Vorher war ich bedrückt
gewesen, aber jetzt war ich einfach nur noch traurig. »Diese
herrliche, splittrige, modrige Holztreppe«, sagte ich zu mir selbst.
»Aaach, ach ja.«
Aber bis ich zu meinem
Mittagessen zurückgekehrt war, hatte ich auch schon die gute Seite an
der Sache entdeckt. Ohne Aufträge würde ich Unmengen Zeit für
den Umzug haben. Alles im Leben hat irgendwie einen Sinn.
Wenn mich allerdings auch in
absehbarer Zeit niemand engagierte, würde ich mir auch noch den
zweiten Schuh weichkochen müssen…
Ich wurde langsam manisch vor
Depression.
Das Telefon klingelte. Ich
setzte mich und lauschte einen Augenblick. Zuckte mit den Schultern.
»Albert Samson,
Privatdetektei.«
»Mein Name ist Mrs.
Dorothea Thomas«, sagte eine Frau. »Ich brauche jemanden, der
für mich einer Sache auf den Grund geht. Tun Sie so etwas?«
»Ja«, sagte ich
und hoffte, daß sie über die Art von Job sprach, mit der ich
fertig werden konnte. Der Rest des letzten Schuhs hatte mir nicht überwältigend
gemundet.
»Machen Sie
Hausbesuche, Mr. Samson?«
»Ja«, sagte ich.
Dann fügte ich hinzu: »Innerhalb einer vernünftigen
Entfernung von Indianapolis.« Denn ich wollte nicht übereifrig
erscheinen. Sie hätte sonst denken können, daß ich sie
fressen wollte. Aber ihr Haus lag in Beech Grove, und sie wollte mich um
acht Uhr dahaben. Ich zog meinen Terminplan zu Rate und stellte fest, daß
ich abkömmlich war.
»Bevor Sie auflegen,
Mrs. Thomas, darf ich Sie vielleicht noch fragen, ob Sie mich aufgrund
meiner heutigen Anzeige im Stur angerufen haben?«
»Anzeige?« fragte
sie. »Nein, ich habe einfach die kleinste Anzeige in der Liste der
Detektive in den gelben Seiten herausgesucht.«
»Oh«, sagte ich.
»Also bis heute abend«,
sagte sie.
*
Beech Grove - Buchenhain -
ist ein Vorort, der etwa sechs Meilen näher am Zentrum von
Indianapolis liegt als die meisten anderen. Das Haus war ein solider
Backsteinbau und stand schon ziemlich lange auf seinem Fleck. Es schien
genau das richtige Haus, um einen behaglichen Ehrgeiz darin zu
beherbergen. Über seiner linken Schulter ragte eine große Buche
auf, und ich fragte mich, was Leute, die in so geregelten Verhältnissen
leben, nur von mir wollen konnten.
Vielleicht wollten sie überhaut
nichts von mir - vorn auf der Veranda brannte kein Licht, und auch sonst
war die Vorderfront des Hauses vollkommen dunkel. Da ich fünf Minuten
zu früh war, blieb ich noch in meinem Lieferwagen sitzen. Während
ich das Haus beobachtete, sah ich, wie sich eine weibliche Silhouette an
seiner Seite entlang auf die Veranda zu
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