Der stumme Handlungsreisende
hätten mich vergessen«, sagte sie mit einem ermutigenden Lächeln.
Sie hatte rote Wangen und eine frische Stimme.
»Heute war bei mir Tag
der Erinnerung an wichtige Leute«, sagte ich. »Und wie geht’s
der Patientin?«
»Gut. Ich habe
geschlafen, geschlafen und geschlafen.«
»Setzen die Sie hier
unter Drogen, oder schaffen Sie das ganz von allein?«
»Sie helfen. Es ist schön,
umsorgt zu werden. Ich schlafe so viel, aber ich erhole mich nicht recht
dabei. Ich nehme an, es wird schon besser werden.«
»Zweifellos«,
sagte ich. Es tat gut, wieder einmal mit ihr zu reden. »Es tut gut,
wieder mal mit Ihnen zu reden«, sagte ich. Ich nahm ihre Hand.
»Sie sind ein netter
Mann«, sagte sie. »Es ist schön, Sie wiederzusehen.«
Einen Augenblick lang schloß sie die Augen. Sie drehte sich im Bett um,
um mich besser ansehen zu können, und öffnete dann ihre Fenster
zur Welt von neuem. »Albert, ich habe nachgedacht«, sagte sie.
»Nachgedacht worüber?«
Ȇber etwas, was
Sie mir vielleicht erklären können. Ich weiß nicht, ob ich
es eigentlich bereits wissen sollte, von den Dingen, die Sie mir schon erzählt
haben. Mein Kopf - er funktioniert nicht richtig.«
»Was gibt es, Linn?«
»Was ist mit John
passiert? Ich meine, war es ein Unfall oder was?« Die Frage glitt
durch mich hindurch wie durch weiche Margarine. »Ich weiß es
nicht. Ehrlich, ich wünschte, ich wüßte es.«
»Aber…«,
begann sie. Dann blinzelte sie und änderte ihre Marschroute. »Wie
geht es ihm? Hat sich sein Zustand verändert?«
»Nein«, sagte
ich, denn ich wollte ihr nicht sagen müssen, daß ich es nicht
nachgeprüft hatte. »Es ist alles beim alten.«
»Ich wünschte, ich
wüßte es«, sagte sie. »Ich wünschte, ich wüßte,
was passiert ist.«
Nachdem wir uns fünf
Minuten unterhalten hatten, konnte sie kaum noch die Augen offenhalten.
Sie schien die Energie einer
Purpurwinde zu haben, offen, dramatisch, stark, aber kurzlebig. Ich
wartete, bis ihr Atem regelmäßig ging. Dann zog ich ihr die
Decken bis ans Kinn und ließ sie allein.
Ich suchte eine
Krankenschwester und fand vier Türen weiter den Flur hinab eine, die
dabei war, Wäsche aufzustapeln. Ich fragte sie nach Linns
Gesundheitszustand.
Die Schwester hatte eine
Engelsgeduld mit mir. »Sind Sie ein Familienmitglied?« fragte
sie.
»Nein. Ich…«
»Ein Freund?«
»Ich bin ein
Angestellter. Ich arbeite für sie.«
»Sie ist keine gesunde
Frau. Ich hoffe, Sie haben nichts Geschäftliches mit ihr besprochen.«
»Wir haben über
die Blumen gesprochen und über die Bäume, und darüber,
wieviel nasser es in der Sahara wäre, wenn es dort gelegentlich mal
regnen würde.«
Die Schwester nickte. »Wir
wissen immer noch nicht genau, was ihr eigentlich fehlt. Wir machen
Laboruntersuchungen, aber es geht sehr langsam voran. Sie ist sehr
schwach. Sie ist vollkommen ausgezehrt und scheint seit langer Zeit
unterernährt zu sein. Wir haben einen Mangel an mehreren Vitaminen
und Mineralien festgestellt. Es ist ein Wunder, daß sie nicht zum
Spielball jedmöglicher Krankheitserreger geworden ist.«
»Gütiger Himmel«,
sagte ich.
»Das ist selten bei
einem so jungen Menschen.«
»Sie hat seit mehreren
Monaten allein gelebt«, sagte ich.
»Sie ist doch so nett.
Ich verstehe es einfach nicht. Sie hat kaum Besuch gehabt. Nur Sie und ein
junges Mädchen.«
»Meine Tochter«,
sagte ich.
»Es ist sehr ungewöhnlich«,
sagte die Schwester. Es bezog sich sowohl auf den Mangel an Besuchern als
auch auf Linns Gesundheitszustand. »Sie muß sich furchtbar
vernachlässigt haben.«
»Und ist vernachlässigt
worden.«
30
Bevor ich wieder zurück
in die Gluthitze des hochsommerlichen Indianapolis fuhr, saß ich
eine Weile im Wartezimmer der Loftus-Klinik und brütete vor mich hin.
Ich wollte unbedingt herausfinden, was John Pighee zugestoßen war.
Und, um ehrlich zu sein, nicht nur für Linn Pighee, sondern auch für
mich selbst. Ich hasse es, in Fragen zu investieren, ohne meine Dividende
an Antworten dafür zu bekommen.
Aber während meine Gefühle
in dieser Hinsicht ganz unzweideutig waren, kämpfte mein Verstand mit
einer Reihe von Widersprüchen. Es lag nicht nur daran, daß ich
Angst vor Captain Gartland hatte: Ich fand, daß er einen vernünftigen
Standpunkt bezogen hatte. Und ich mußte zugeben, daß es tatsächlich
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