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Der stumme Handlungsreisende

Der stumme Handlungsreisende

Titel: Der stumme Handlungsreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lewin
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hätten mich vergessen«, sagte sie mit einem ermutigenden Lächeln.
     Sie hatte rote Wangen und eine frische Stimme.
    »Heute war bei mir Tag
     der Erinnerung an wichtige Leute«, sagte ich. »Und wie geht’s
     der Patientin?«
    »Gut. Ich habe
     geschlafen, geschlafen und geschlafen.«
    »Setzen die Sie hier
     unter Drogen, oder schaffen Sie das ganz von allein?«
    »Sie helfen. Es ist schön,
     umsorgt zu werden. Ich schlafe so viel, aber ich erhole mich nicht recht
     dabei. Ich nehme an, es wird schon besser werden.«
    »Zweifellos«,
     sagte ich. Es tat gut, wieder einmal mit ihr zu reden. »Es tut gut,
     wieder mal mit Ihnen zu reden«, sagte ich. Ich nahm ihre Hand.
    »Sie sind ein netter
     Mann«, sagte sie. »Es ist schön, Sie wiederzusehen.«
     Einen Augenblick lang schloß sie die Augen. Sie drehte sich im Bett um,
     um mich besser ansehen zu können, und öffnete dann ihre Fenster
     zur Welt von neuem. »Albert, ich habe nachgedacht«, sagte sie.
    »Nachgedacht worüber?«
    »Über etwas, was
     Sie mir vielleicht erklären können. Ich weiß nicht, ob ich
     es eigentlich bereits wissen sollte, von den Dingen, die Sie mir schon erzählt
     haben. Mein Kopf - er funktioniert nicht richtig.«
    »Was gibt es, Linn?«
    »Was ist mit John
     passiert? Ich meine, war es ein Unfall oder was?« Die Frage glitt
     durch mich hindurch wie durch weiche Margarine. »Ich weiß es
     nicht. Ehrlich, ich wünschte, ich wüßte es.« 
    »Aber…«,
     begann sie. Dann blinzelte sie und änderte ihre Marschroute. »Wie
     geht es ihm? Hat sich sein Zustand verändert?«
    »Nein«, sagte
     ich, denn ich wollte ihr nicht sagen müssen, daß ich es nicht
     nachgeprüft hatte. »Es ist alles beim alten.«
    »Ich wünschte, ich
     wüßte es«, sagte sie. »Ich wünschte, ich wüßte,
     was passiert ist.«
    Nachdem wir uns fünf
     Minuten unterhalten hatten, konnte sie kaum noch die Augen offenhalten.
    Sie schien die Energie einer
     Purpurwinde zu haben, offen, dramatisch, stark, aber kurzlebig. Ich
     wartete, bis ihr Atem regelmäßig ging. Dann zog ich ihr die
     Decken bis ans Kinn und ließ sie allein.
    Ich suchte eine
     Krankenschwester und fand vier Türen weiter den Flur hinab eine, die
     dabei war, Wäsche aufzustapeln. Ich fragte sie nach Linns
     Gesundheitszustand. 
    Die Schwester hatte eine
     Engelsgeduld mit mir. »Sind Sie ein Familienmitglied?« fragte
     sie.
    »Nein. Ich…«
    »Ein Freund?«
    »Ich bin ein
     Angestellter. Ich arbeite für sie.«
    »Sie ist keine gesunde
     Frau. Ich hoffe, Sie haben nichts Geschäftliches mit ihr besprochen.«
    »Wir haben über
     die Blumen gesprochen und über die Bäume, und darüber,
     wieviel nasser es in der Sahara wäre, wenn es dort gelegentlich mal
     regnen würde.«
    Die Schwester nickte. »Wir
     wissen immer noch nicht genau, was ihr eigentlich fehlt. Wir machen
     Laboruntersuchungen, aber es geht sehr langsam voran. Sie ist sehr
     schwach. Sie ist vollkommen ausgezehrt und scheint seit langer Zeit
     unterernährt zu sein. Wir haben einen Mangel an mehreren Vitaminen
     und Mineralien festgestellt. Es ist ein Wunder, daß sie nicht zum
     Spielball jedmöglicher Krankheitserreger geworden ist.«       
    »Gütiger Himmel«,
     sagte ich.
    »Das ist selten bei
     einem so jungen Menschen.«
    »Sie hat seit mehreren
     Monaten allein gelebt«, sagte ich.
    »Sie ist doch so nett.
     Ich verstehe es einfach nicht. Sie hat kaum Besuch gehabt. Nur Sie und ein
     junges Mädchen.«
    »Meine Tochter«,
     sagte ich.
    »Es ist sehr ungewöhnlich«,
     sagte die Schwester. Es bezog sich sowohl auf den Mangel an Besuchern als
     auch auf Linns Gesundheitszustand. »Sie muß sich furchtbar
     vernachlässigt haben.«
    »Und ist vernachlässigt
     worden.«

 
    30
    Bevor ich wieder zurück
     in die Gluthitze des hochsommerlichen Indianapolis fuhr, saß ich
     eine Weile im Wartezimmer der Loftus-Klinik und brütete vor mich hin.
     Ich wollte unbedingt herausfinden, was John Pighee zugestoßen war.
     Und, um ehrlich zu sein, nicht nur für Linn Pighee, sondern auch für
     mich selbst. Ich hasse es, in Fragen zu investieren, ohne meine Dividende
     an Antworten dafür zu bekommen.
    Aber während meine Gefühle
     in dieser Hinsicht ganz unzweideutig waren, kämpfte mein Verstand mit
     einer Reihe von Widersprüchen. Es lag nicht nur daran, daß ich
     Angst vor Captain Gartland hatte: Ich fand, daß er einen vernünftigen
     Standpunkt bezogen hatte. Und ich mußte zugeben, daß es tatsächlich
    

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