Der stumme Ruf der Nacht
es einen Haftbefehl gegen sie gab und Will ihn vollstrecken musste. Er empfand etwas für sie, aber wie stark das Gefühl auch sein mochte, seine Pflicht und seine Verantwortung gegenüber seinem Beruf wurden dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Sie wusste das und wurde damit auch fertig. Genauso wie sie damit fertig wurde, dass sie einfach weggelaufen war und ihn und diese verrückte Sache hinter sich ließ, die in jener Nacht in seiner Wohnung passiert war. Es war nur eine Nacht gewesen. Es war vorbei.
Liebe jedenfalls war es nicht.
Das jedenfalls glaubte sie. Es konnte einfach keine Liebe sein. Man konnte jemand doch nicht schon nach ein paar Wochen lieben. Nach einer einzigen Nacht.
Was sie empfand, war Einsamkeit.
Sie erinnerte sich daran, wie sie seinen starken Körper mit ihren Händen berührt hatte. Sie dachte an seine Hände.
Einsamkeit. Und vielleicht auch Begehren.
Courtney warf einen Blick auf die Telefonzelle. Ihre Schritte wurden zögerlich. Es war später Nachmittag, in Texas beinahe schon Abend. Nur ein einziger Anruf …
Keine Spuren , hatte Alex ihr eingeschärft. Wenn du auch nur eine einzige Spur hinterlässt, fliegst du auf .
Manche Kunden machten um ein Vielfaches mehr Arbeit, als sie es wert waren. Und Courtney Glass entwickelte
sich mit rasender Geschwindigkeit zu so einem Fall.
Alex beobachtete auf dem Monitor, wie Nathan Devereaux an den Eingang von Lovell Solutions trat und mit einem feinen Lächeln direkt in die Überwachungskamera blickte. Sie stieß einen Fluch aus, bei dem sich ihre Großmutter im Grab umdrehen würde.
Mit vor der Brust verschränkten Armen ging sie vom Büro in das Empfangszimmer, das sich seit Courtneys Besuch um keinen Deut besser präsentierte. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde ihm nichts, aber auch gar nichts sagen.
»Morgen.« Nun strahlte er übers ganze Gesicht. Und wieder sprach er mit diesem Akzent. Kein texanischer. Sie konnte ihn noch immer nicht richtig einordnen, obwohl er garantiert aus dem Süden stammte.
»Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte sie. »Ich gebe die Aufenthaltsorte meiner Kunden nicht preis.«
Er hob eine Braue und ging zum Kaffeeautomaten. »Darf ich?« Schon nahm er eine Kaffeetasse aus einem Karton, den sie noch nicht ausgepackt hatte, und schenkte sich Kaffee ein.
»Ich bin gar nicht wegen Courtney hier.« Lässig mit einer Schulter gegen die Wand gelehnt, zwinkerte er sie an.
»So, und warum dann?«
Er schlürfte den Kaffee und nickt. »Mmh, ist der gut.«
»Warum sind Sie gekommen, Detective? Ich habe noch anderes zu tun.«
»Das glaube ich gerne. Sie sind sicher sehr beschäftigt,
oder? Bei Ihren Fähigkeiten?« Er sah sich im Zimmer um. Dabei blieb sein Blick auf dem großen Computer-Karton hängen, der gestern geliefert worden war. Sie war gerade dabei, für ihr gesamtes System ein Update zu fahren.
»Ich komme klar«, erwiderte sie.
»Computer sind wichtig für Sie, nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Sie sind ganz nützlich. Wenn man weiß, was man damit anstellen kann.«
Er trank einen weiteren Schluck. »Ich habe davon nicht so viel Ahnung. Ich arbeite lieber draußen.«
Das überraschte sie nicht. Sie hielt Nathan Devereaux für einen sehr geschickten Ermittler. Sie vermutete, dass er die meisten seiner Informationen aus dem direkten Gespräch bezog, nicht durch Datenbankabfragen oder Internetrecherchen.
»Aber warum sind Sie eigentlich hier?«, fragte sie nun zum dritten Mal.
Er stieß sich von der Wand ab und kam so nah auf sie zu, dass sie zu ihm aufsehen musste. Allerdings war Alex nicht sehr groß, so dass es kaum einen Mann gab, der sie nicht überragte. Sie hatte gelernt, sich davon nicht einschüchtern zu lassen.
Er lächelte. »Sie sind sehr geschäftsmäßig.«
»Ich führe ja auch ein Geschäft.«
»Das habe ich bemerkt.«
Er stand so nahe vor ihr, dass sie die grauen Flecken in seinen blauen Augen wahrnahm. Sein dunkles Haar war ein wenig verstrubbelt – genau so, dass sie gerne beim Sex mit ihren Fingern durchgefahren wäre.
»Ich hätte da eine Aufgabe für Sie.«
Erstaunt hob sie die Augenbrauen.
»Es handelt sich um eine Vermisstensuche.«
»Warum machen Sie das denn nicht selber?«, wollte sie wissen. »Die Polizei verfügt doch über mehr Mittel als ich.«
»Vielleicht. Tatsache ist aber, dass ich keine Zeit dafür habe. Absolut nicht. Außerdem geht es um einen Fall, den ich streng genommen gar nicht bearbeite.« Er ließ den Blick durch das Zimmer
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