Der stumme Ruf der Nacht
Polizei kam, hatte er einer Spezialeinheit angehört, und da ging man anders vor. Dort lautete die Regel, den Auftrag verstehen, sich auf das Ziel konzentrieren und dazu auch die Regeln umgehen, wenn es einen wirklich guten Grund gab.
Und Courtney aus dem Visier eines Killers zu holen, war so ein Grund.
Will bahnte sich den Weg durch das dichte Rankengestrüpp des Waldes. Die Bäume, zwischen denen er sich bewegte, kannte er schon von seiner Ausbildung in den Rocky Mountains Colorados: Ponderosa-Kiefern, Pinyon-Kiefern und Wacholderbäume. In den Wäldern hier konnte er sich lautlos fortbewegen, ohne Spuren
zu hinterlassen, und sich tagelang verstecken, wenn er sein Ziel suchte und darauf wartete zuzuschlagen. Er wusste, dass er es konnte, aber er hoffte, dass das nicht nötig sein würde. Schließlich umfasste seine derzeitige Ausrüstung nicht mehr als eine Pistole, ein Handy und einen Energieriegel. Und den Stellplatz für seinen Wagen hatte er auch nur zwei Tage im Voraus bezahlt.
Zwei Tage würde er jedoch kaum brauchen. Zwei Stunden vielleicht, wenn er die Lage richtig einschätzte. Jetzt war es zwei Uhr am Montagnachmittag. Welcher Beschäftigung Courtney in diesem Städtchen auch nachgehen mochte, wahrscheinlich arbeitete sie tagsüber. Das hieß, ab dem späten Nachmittag oder Abend hatte sie frei. Wenn sie nicht gerade einen Job als Bedienung hatte und noch beschäftigt war. In diesem Fall hätte sie allerdings die Vormittage frei, so dass er sie spätestens morgen abpassen würde.
Der entscheidende Faktor dabei war das Geld. Er fragte sich, wie sie es sich beschaffte. Die Summe, mit der sie Austin verlassen hatte, konnte nicht sehr lange gereicht haben. Also müsste sie inzwischen einen Job haben. Vermutlich einen, bei dem sie den Lohn bar auf die Hand erhielt. Will hatte sich bei den Behörden erkundigt und herausgefunden, dass sich Courtney weder um ihre Zulassung als Friseurin oder Kosmetikerin in New Mexico bemüht hatte noch dass ihre texanische Zulassung überschrieben worden war. Wenn sie also in einem Haarstudio arbeitete, dann illegal. Aber er glaubte nicht, dass sie das tat – nach all der Vorsicht, die sie hatte walten lassen, um ihre Spuren zu verwischen. Er vermutete, dass sie einen recht einfachen Job gesucht
hatte, vielleicht als Zimmermädchen in einem Hotel oder als Bedienung. Oder sie hatte eine reiche Familie aufgetan, für die sie Kindermädchen spielen konnte. Das jedoch war eher unwahrscheinlich, denn dafür brauchte man in der Regel Referenzen.
Will achtete genau darauf, wohin er trat. Es hatte vor nicht allzu langer Zeit geregnet, so dass der Boden feucht und rutschig war. Um hier keine Spuren zu hinterlassen, musste man sehr aufpassen. Wahrscheinlich übertrieb er es mit der Vorsicht, aber das Training hatte ihm die Vorsicht in Fleisch und Blut übergehen lassen.
Er lief zunächst bergauf, dann einen steilen Abhang hinab, an dessen Fuß die Hauptstraße der Stadt lag. Durch die Bäume sah er die erwartbaren Zeichen einer Freizeitgesellschaft mit dem entsprechenden Kleingeld: ein Sportgeschäft mit Angeln zum Fliegenfischen in der Auslage, ein Café und ein Andenkenladen, in dem gerade alle türkisen Schmuckstücke reduziert waren. Er ging noch etwa fünfzig Meter weiter, bis er fand, was er suchte: den einzigen Lebensmittelladen der Stadt, sofern er richtig recherchiert hatte. Und eine Tankstelle. Davor stand eine Telefonzelle, nach der sich Will gestern unter dem Vorwand, ein Mechaniker der Telefongesellschaft zu sein, erkundigt hatte.
Will sah sich um, bis er einen umgestürzten Baumstamm entdeckte, der hinter einigen Ästen verborgen war. Dahinter bezog er Position und überprüfte die Sicht. Die Telefonzelle ließ sich von hier gut beobachten, und auch das Café und den Eingang des Lebensmittelladens hatte er im Blick. Wenn sich Courtney in einem Umkreis von zehn Meilen aufhielt, würde sie bis
Sonnenuntergang garantiert an einem der drei Plätze auftauchen. Und wenn nicht, würde er morgen nach ihr Ausschau halten und sich unterdessen ein wenig umhören. Er hatte auch ein Foto von ihr dabei. Doch das stellte für ihn nur die letzte Möglichkeit dar. Nachdem sie aus Texas geflüchtet war, hatte sie vermutlich ihr Aussehen verändert, und wenn ein Fremder in der Stadt ein Foto herumzeigte und Fragen stellte, würde er sicher Gerede hervorrufen.
Will atmete die feuchte, nach Wald duftende Luft und sah auf die Uhr. In etwa fünf Stunden würde es dunkel werden, im Wald
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