Der stumme Ruf der Nacht
Hause.«
»Hast du’s gemacht?«
»Nein. Es schien ewig zu dauern, aber schließlich bekamen wir Luftunterstützung. Ein Hubschrauber kam und hat unsere Patrouille herausgeholt, ehe es noch schlimmer wurde. Obwohl das gar nicht mehr möglich war. Drei von sechs Männern waren tot, und Dentons Bein war auch weg.«
»Hat er’s zurückgeschafft?«
»Dank mir.« Will klang bitter. »Und was für ein Willkommen er hatte. Er kam gerade rechtzeitig zurück, um zu erfahren, dass seine Frau einen anderen hatte. Sie hatte sogar schon die Scheidung eingereicht.«
»Das ist ja furchtbar.«
Er zuckte die Achseln. »Passiert ziemlich oft. Der Stress. Die lange Abwesenheit. Das belastet jede Ehe.«
Sie sah ihre verschränkten Hände an. Sie hatte so viele Fragen, aber sie wollte noch warten. Sie fragte
sich, warum er sich überhaupt für einen solchen Job beworben hatte.
»Bist du froh, dass du wieder zurück bist?«
»Manchmal. Manchmal ist es aber auch komisch. Hier ist alles so angenehm, aber die Menschen hier scheinen das gar nicht mehr zu merken. Für sie ist das selbstverständlich.« Seine Brust hob sich, und er seufzte schwer. »Aber ich bin froh, dass ich aus all dem Töten raus bin. Das macht einen wirklich fertig. Ich kann das nicht erklären. Es ist, als wäre man taub, so total abgestumpft. Und das wollte ich nie sein. Deswegen habe ich auch nicht verlängert.«
»Und warum bist du dann zur Polizei gegangen?«
Er warf ihr einen Blick zu. »Ich bin Detective. Ich wollte zum Morddezernat, nicht einfach zur Polizei.«
»Aber warum denn?« Es schien eine seltsame Wahl für einen Mann, der genug vom Tod hatte.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Das glaube ich nicht.«
Er schwieg. »Ich glaube, ich wollte etwas Sinnvolles tun. In jedem meiner Fälle, bei jedem einzelnen. Ich finde, wenn der einzelne Mensch keine Rolle spielt, macht auch das Ganze keinen Sinn.«
Sie sah auf seine Hand und fuhr wieder mit dem Daumen über seine Handfläche. Er vertraute ihr, ganz egal, was er vorhin gesagt hatte. Er vertraute ihr, andernfalls hätte er ihr das alles nicht erzählt. Nun war es an ihr, ihm zu vertrauen. Aber die Panik saß noch tief in ihr drin und nagte.
»Lass uns ein bisschen schlafen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Wir haben morgen zehn Stunden Fahrt vor uns.«
Sie glitten unter die Decke, und er zog sie an sich heran.
»Warum lässt du mich denn nicht fahren?«, fragte sie noch einmal.
Er hob einen ihrer Schenkel auf seinen Bauch und stieß einen Seufzer der Zufriedenheit aus. »Keine Chance.«
Nathan hörte den Streit, als er sich Zimmer 822 näherte. Da drin übertönte Alex’ klare Stimme die der Schwester.
»Das ist doch absurd«, rief sie. »Sie können mir doch den Netzzugang nicht verbieten. Der Witz eines offenen Netzwerks ist doch, dass der Zugang für alle frei ist.«
»Das ist eine ärztliche Anordnung. Sie dürfen das hier nicht benutzen. Sie sollten sich ausruhen.«
Nathan stand in der Tür und musterte Alex, die aussah, als wäre sie mit einem Baseball-Schläger verprügelt worden. Mit finsterer Miene wehrte sie sich dagegen, dass die Schwester das Computerkabel herauszog. Als Nathan sich räusperte, sah sie auf.
»Gott sei Dank! Den ganzen Vormittag versuche ich schon, dich zu erreichen. Warum war dein Handy abgeschaltet?«
»Ich musste eine Aussage machen. Unter Eid.«
Als die Schwester geschäftig aus dem Zimmer eilte, warf sie ihm einen giftigen Blick zu. Offenbar hatte sie es aufgegeben, Alex von ihrem Laptop zu trennen.
Nathan trat ans Bett und legte eine Hand auf den Metallrahmen. In ihrer Krankenhauskleidung sah sie so zerbrechlich aus, und die große lila Beule auf einer
Seite ihres Gesichts weckte in ihm das Bedürfnis, jemanden zu erwürgen.
Oder zumindest ein paar Leute ins Gefängnis zu stecken.
Ihre Finger flogen über die Tastatur, als sie weiterarbeitete. Sie hatte einige Akten neben sich ausgebreitet, außerdem lag ein Handy auf dem Bett, und überhaupt schien sie hier ihr Büro für heute Vormittag eingerichtet zu haben.
»Wirst du heute denn nicht entlassen?« Insgeheim hoffte er, dass es nicht der Fall wäre, oder zumindest nur mit starken Medikamenten.
Sie unterbrach ihre Arbeit und sah ihn an. »Angeblich am Mittag. Das heißt, wenn mich diese Schwester nicht schon vorher hinauswirft. Alles was recht ist, aber diese Frau -«
»Was hast du rausgefunden?«, unterbrach er sie.
Endlich legte sie den Computer beiseite. »Ich habe
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