Der stumme Tod
oben an, dass er immer nervöser wurde. Wahrscheinlich wähnte er sich kurz vor der Entlassung.
Als sie die Treppe hinunterstiegen, jaulte plötzlich ein lautes Signalhorn auf, das selbst den Fabriklärm noch übertönte.
»Was ist das?«, brüllte Rath dem Schichtleiter ins Ohr, »Feueralarm?«
»Nein. Da hat jemand seine Arbeit nicht rechtzeitig erledigt und kommt einem Kollegen ins Gehege.«
»Seinen Arbeitsplatz verlassen, ohne für einen Springer zu sorgen.«
Bahlke zuckte die Achseln. »Oder einfach getrödelt.«
Plötzlich ertönte ein zweites Signal und das Band stand still. »Scheiße!« Der Schichtleiter rannte los, und Rath versuchte Schritt zu halten. An der nächstbesten Station blieb Bahlke stehen und fauchte einen Arbeiter an, der Polstersitze festschraubte. »Was ist denn los? Welcher Idiot hat das Band angehalten?«
Der Arbeiter zuckte mit den Achseln. »Keene Ahnung. Bei der Hochzeit jibt's Probleme, jloob ick.«
Im Bandabschnitt D wie Dora herrschte Chaos. Die vier Männer, deren Aufgabe es war, die Karosserien auf die Fahrgestelle herabzusenken, redeten wütend auf die beiden Neuen an der Motorenmontage ein. Von dem Rothaarigen, der die beiden anlernen sollte, war nichts mehr zu sehen.
»Was ist denn hier los?«, brüllte der Schichtleiter die Arbeiter an. »Habt ihr sie noch alle? Wer hat das Band gestoppt?«
»Icke«, sagte ein Hüne und stellte sich breitbeinig vor den Schichtleiter. »Der Motor hängt schief wie Pik sieben, da fehlen noch zig Schrauben, auf so wat setze ick keine Karosserie. Fragense doch die be eden Neuen, warum det nich fluppt.«
Den Kleinen in der dünnen Jacke musste man nicht lange bitten. »Wir sind knapp zehn Minuten hier, Chef«, sagte er zu Bahlke. »Toni hat uns gerade mal guten Tag gesagt und zwei Handgriffe gezeigt, dann haut er schon ab, ohne zu sagen wohin - so kann das nicht funktionieren. Und dann muss uns dieser Gorilla auch noch anmotzen!«
»Ick jeb dir jleich Jorilla, du Würstchen«, sagte der Hüne.
»Nu hör schon uff, Kurt«, sagte Bahlke, »lass die Neuen in Ruhe!
Wo ist Toni denn hin? Der kann doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen.«
»Keine Ahnung Chef, er hat nix gesagt. Ist auf einmal weggerannt«, sagte der Kleine.
»Ist ihm schlecht, oder was? Ist doch sonst nicht seine Art, der verkneift sich doch sogar das Pinkeln, um seinen Akkord zu halten.«
Die Neuen zuckten mit den Schultern. Rath hielt den Zeitpunkt für gekommen, sich zu verabschieden.
Er verließ die Montagehalle und ging hoch ins Personalbüro , um sich eine Liste sämtlicher Mitarbeiter geben zu lassen. Wenn er die mit der Kölner Liste verglich, stieß er mit etwas Glück vielleicht auf einen identischen Nachnamen oder sonst eine Auffälligkeit, könnte eine Verbindung zwischen Ford und Bank herstellen. Und hätte den Erpresser hoffentlich am Haken.
Eine einfache Namensliste, ein bescheidener Wunsch, wie Rath dachte. Doch der spitzbärtige Mann hinter dem Schreibtisch war anderer Meinung.
»Wissen Sie, wie viel Arbeit das ist? Wir haben fast dreihundert Leute.«
»Hören Sie, ich kann Sie auch dazu zwingen, mir diese Namen zu geben, aber dann nehme ich die Originalakten mit und drehe Ihr Büro einmal auf links.«
Der Spitzbart schluckte. »Gut«, sagte er. »Sie kriegen Ihre Liste.
Nächste Woche könnte sie fertig sein, denke ich.«
»Morgen«, sagte Rath. »Morgen früh komme ich vorbei und hole sie.« Der Mann wollte protestieren, doch Rath ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und wenn Sie dann nichts für mich haben sollten, stehe ich noch am selben Tag mit einem Durchsuchungsbefehl hier, und sie können Ihr Büro den Rest des Tages nicht mehr benutzen. Und zwei Tage würde ich dann noch fürs Aufräumen einplanen. Nur damit Sie die Alternativen kennen.«
Der Mann nickte, und Rath verabschiedete sich.
In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ein kleiner Tipp noch«, sagte er: »Machen Sie sich jetzt gleich an die Arbeit. Dann haben Sie's schneller hinter sich.«
Als Rath durch die Montagehalle hinausging, war das Band noch nicht wieder angelaufen. Draußen wartete immer noch eine Gruppe Arbeitsuchender vor dem Backsteinbau. Besser als stempeln gehen, dachte Rath, aber ohne Zukunft, so verlockend die Löhne auch sein mochten. Das hier war ein Provisorium und keine Automobilfabrik, eine reine Montagehalle, untergebracht in einem Lagergebäude, das keinen anderen Mieter gefunden hatte. Kein Wunder, dass Ford etwas anderes wollte. Dreihundert
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