Der Sturm
und Benigna Klint mit ihrer Tochter eintrat. Benigna wiederum schritt geradewegs auf Lorenz zu und umarmte ihn:
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich je wiedersehe«, sagte sie auf Französisch.
»Moi non plus«, antwortete Lorenz. »Ist das deine Tochter?«
»Ja.«
»Enchanté«, sagte Lorenz, verbeugte sich, nahm Katarinas Hand und tat lachend so, als wolle er seinen Mund darauf drücken. Katarina antwortete mit einem sehr gezwungenen Lächeln.
Wilhelm begrüßte Benigna und ihre Tochter mit Küssen rechts und links auf die Wangen. Ronny bekam von Benigna einen freundlichen Klaps auf die Schulter und fühlte sich wieder einmal unwohl. Der große, herrische Mann und der plötzlich wiedergekehrte Freund aus seiner Zeit als junger Mann, der weißgoldene Salon mit seinen alten Möbeln und die Intimität seiner Studentenjahre, der Glanz dieses Hauses und die Ärmlichkeit seiner Verhältnisse, die unerreichbare, bewunderte Frau, der Tee in dieser Runde und die kühle, schweigende Schönheit von Katarina, das alles passte nicht zusammen. Lorenz hingegen schien sich nur zu freuen, über das unerwartete Wiedersehen mit Benigna und die fremde und doch vertraute Gesellschaft. Er sprach über das Paris der achtziger Jahre, und zusammen gingen sie noch einmal im Geiste die beliebtesten Wege von damals, riefen Erinnerungen an Lehrer und Bekannte wach, saßen noch einmal in Bistrots, und Wilhelm stimmte ein, indem er von abenteuerlichen Reisen in die französische Provinz jener Jahre erzählte. Ganz in seinem Element war Lorenz schließlich, als ihn Wilhelm aufforderte, über seine jüngsten Forschungen, seine Arbeiten über Kredit und ökonomische Instabilität zu reden.
»Zwischen den Jahren 1980 und 2000 «, sagte Lorenz Winkler, »stieg der Dow Jones Industrial von etwa 1000 Punkten auf 10 000 Punkte. Diese Entwicklung ging natürlich nicht auf ein Wachstum der sogenannten Realwirtschaft zurück. Der Grund dieses Wachstums war vielmehr die rasante Expansion der Finanzmärkte.«
»Das heißt«, sagte Wilhelm af Sthen, »Deregulierung der Arbeitsmärkte, Billiglohnländer, Hedgefonds.«
»So ungefähr. Der Kredit erschloss sich die ganze Welt. Das alles wurde mit zukünftigen Profiten verrechnet, und auf dieser Grundlage wurde weiter investiert, und auch die zukünftigen Profite wurden immer zukünftiger. Alles beruht jetzt nur noch auf Versprechen, die wiederum nur auf Versprechen beruhen.«
»Und die Reichen werden immer reicher. Die Kosten aber werden sozialisiert. Und das ist keine harmlose Sache. Denn das heißt, dass jede kleine Unruhe, jeder Fehler im System zum großen Knall führen kann, wie vor ein paar Jahren in Amerika, als plötzlich zu viele Leute ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten. Das System ist nicht mehr beherrschbar, weil alles davon abhängt, ob die Kette der Versprechungen zu halten verspricht.«
Wilhelm lehnte sich zurück. »Ich habe einige deiner Aufsätze gelesen«, sagte er, »und auch ein paar deiner Interviews. Du weißt, wir haben hier eine politische Bewegung in Schweden, die eigentlich entstand, weil man die Freiheit im Internet bewahren wollte. Aber die Richtung hat sich geändert – es geht jetzt nicht mehr nur ums Netz, es geht auch um die großen Konzerne. Und es geht um die Banken.«
»Das habe ich gelesen, ja.«
»Es ist nicht leicht, diese Bewegung aufzubauen. Junge Leute dazu zu bewegen, sich für mehr Freiheit im Netz einzusetzen, das ist eines. Das verstehen sie, denn sie wollen sich Dinge herunterladen und nicht fürchten, verraten oder angeklagt zu werden. Aber die politischen Konsequenzen zu ziehen, das Ganze in den Blick zu bekommen, die Banken, die Finanzwirtschaft, das ist viel schwieriger.«
»Und, was willst du tun?«
»Es wird Situationen geben, wie im Herbst 2008 , mit den ›Lehman Brothers‹. Und die Leute werden sich überlegen, was sie da mitmachen die ganze Zeit. Sie werden sich fragen, ob sich ihr dummer Gehorsam noch lohnt.«
»Den Gedanken kenne ich«, anwortete Lorenz und lachte, »die Terroristen in den siebziger Jahren, in Deutschland, hatten dieselbe Idee. Irgendetwas Großes geht kaputt, und dann verstehen die Leute, dass der Kapitalismus nicht für sie da ist.«
Das Lachen ärgerte Wilhelm. »Du wirst schon sehen. Es gibt Menschen, die, im Unterschied zu Berliner Professoren, sehr viel dafür tun werden, dass das passiert, mit Geld, mit Arbeit, und mit sehr viel mehr, sogar mit ihrem Leben.«
Ronny, Benigna und deren Tochter hatten
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